Der Wilde Mann im Kalcherwald

Vor langer Zeit, da das Sterzinger Moos noch ein giftiger Sumpf und der Weg über den Jaufen ein steiniger Saumpfad waren, lebte in den unwirtlichen Wäldern zwischen dem Platschjoch und Kalch der Wilde Mann.

Er war ein Riese an Gestalt und besaß die Kräfte von zwölf Bären. Die Menschen und ihre Nähe mied er nach Möglichkeit, war ihnen jedoch gut gesinnt. Kopf- und Barthaar verdeckten seinen mächtigen Brustkorb und ließen weder Gesicht noch seine Kleidung erkennen.

War der Winter endgültig vorbei, stieg er aufs Joch und rief den Bauern im Tale die Bauzeit zu; hinein bis Schluppes unterm Jaufenspitz und hinüber zu den Telfeser Leiten hallte seine Donnerstimme, die den Brennerwind übertönte und Wald und Berge erbeben ließ.

Zur Zeit der "Bergmahder" nächtigten einstens im alten Gaden am Seiterberg zwölf Leute im frischen Ahnheu. Entsetzt fuhren mit einem Male ihre Köpfe aus dem Schlafe empor, denn ein unheimliches Krachen hatte ihren tiefen Schlaf gestört. Der Wilde stand vor der Hütte und hatte seinen mächtigen Stock an die Schupfenwand gelehnt.

Als er jedoch der vielen erschreckten Köpfe, die aus dem Heu ragten, ansichtig wurde, machte er kehrt und rief:

"I woaß in Kaserwald
neunmal jung und neunmal alt.
Aber so viele Köpfe auf oan Stock
hann i nou nie g'sech'n".

*

Am Platscherjoch war einem Hirten ein zweijähriges Rind verkugelt, blieb aber über einer Felswand an einer Baumwurzel hängen. Die Not war groß und bis Leute aus dem Tal zu Hilfe geholt waren, konnte das Vieh tot sein.

Da stand, wie aus dem Boden gewachsen, der Wilde da, schob den ratlosen Hirten beiseite und bog eine schenkeldicke Birke zu einem Haken, mit der er das Rind aus seiner mißlichen Lage angelte. Da das arme Vieh aber an jener abschüssigen Stelle nicht zu stehen vermochte, nahm es der Wilde unter seinen haarigen Arm und trug es in Sicherheit. Den Dank des Hüterbuben tat er mit den Worten ab:

"Laß mir meine Goaßlar und Kitzlar in Rueh!"

Darunter verstand er die Gemsen und Rehe des Kalcherwaldes, denn der Hirte war als rauher Wilderer bekannt.

Vielleicht wäre es besser gewesen, der Riese wäre mit den Bauern nicht so gut und hilfreich gewesen, denn diese begannen sich über seine Gutmütigkeit lustig zu machen und achteten seiner Wetterrufe nicht mehr. Eines Jahres warteten sie seine Stimme überhaupt nicht mehr ab, denn schon längst war der Winter gebrochen und ein früher Lenz über den sonst so winterlichen Sterzinger Talboden gekommen. Ein gewaltiger Witterungsumschlag machte jedoch die verfrühten Arbeiten der Bauern zunichte und knietiefer Schnee erdrückte die junge Saat.

Der Anblick der verwüsteten Felder verleidete des wilden Naturmenschen Gemüt, er kündete den Bauern, die alles besser wissen wollten seine Hilfsbereitschaft, zog erbost von dannen und war nie mehr gesehen.

Quelle: Fink, Hans, Eisacktaler Sagen, Bräuche und Ausdrücke. Schlern-Schrift Nr. 164, Innsbruck 1957, S. 44 f.