Der Lueggeist

Wo die Talschlucht hinter dem Brennerpasse zusammenschrumpft, bestand einstens am Lueg eine Befestigung. Im Einvernehmen zwischen dem Bischof Egno von Brixen und dem Grafen Albert von Tirol wurde dieselbe bereits im Jahre 1241 abgebrochen, da sie den Straßenraub begünstigte. Die Kirche am Lueg soll laut Volksmund die erste Pfarrei hüben und drüben der Wasserscheide gebildet haben und sehr wohlhabend gewesen sein.

Da kam einstens ein Pfarrer dorthin, der die Güter der Kirche verkaufte, so daß sie ganz verarmte. Zur Strafe hatte sein Geist am Lueg und am Brenner umzugehen und seine Sünden abzubüßen. Nächtlichen, aber nur furchtlosen Wanderern mußte er mit einem Lichte über den Paß helfen.

Später wurde er von den Sterzinger "Patern" in den Obernberger See verbannt, wo ihn Hirten, die Steine in die Fluten warfen, mahnend auftauchen sahen.

Ein alter Riedl von Gossensaß, der in Innsbruck diente, ging lange vor dem Bahnbau bei Nacht und Nebel durch das Wipptal den Brenner hinan. Am Lueg war es so finster, daß sich der Urlauber nicht mehr zurecht fand. Er faßte einen frommen Gedanken, um so mehr ihm in jener verlassenen, unheimlichen Gegend nicht recht wohl zu Mute war.

Da trat ein Priester in altweltischer Kleidung, mit einer Laterne bewaffnet, aus dem Lueger Kirchl. Er kam auf den Riedl zu und forderte ihn auf weiterzugehen, dabei wortlos mit einer einladenden Geste gegen den Brenner weisend. An der Paßhöhe angelangt, wo der muntere Eisack wegweisend südwärts gluckst und die Berge auseinander treten, machte der schweigsame Wegweiser kehrt und war verschwunden.

Quelle: Fink, Hans, Eisacktaler Sagen, Bräuche und Ausdrücke. Schlern-Schrift Nr. 164, Innsbruck 1957, S. 21 f.