Huisile stellt eine Prozession

Fast furchtbar jedoch zeigte sich die unheimliche Kraft des Hexenmeisters in Sankt Leonhard im Passeiertal, wo er einmal eine ganze Prozession "stellte". Das Bild wirkt in seiner phantastischen übermenschlichen Vorstellung gewaltig und wird in dieser Art wohl von keiner anderen Tiroler Sage übertroffen. Hier scheint Huisile wirklich bei Faust in die Schule gegangen zu sein!

Feierlich zog die Prozession durch die sommerlichen Fluren des Passeiertales. Die Glocken sangen ihr großes Lied, die Schwegelmusik spielte und die Schützen marschierten fest im Schritt, voran der Schützenhauptmann und die Schildhofbauern. Den Mittelpunkt bildete der goldverzierte "Himmel" mit dem Höchsten Gut, dahinter aber wandelten betend die Kranzeljungfrauen und das ganze Weibervolk in seinen farbenfrohen Trachten. Huisile durfte der Prozession nicht zu nahe kommen, sondern er stand droben am "Schlatter" (Schlattacher) Joch und schaute heimlich zu. Dann aber packte ihn plötzlich die Lust und "der Wunder", seine Kunst zu probieren. Und er tat's: "Steht still", klang sein Zauberwort… Auf einmal blieben die Schulbuben wie erstarrt stehen. Dann packte es die Männer, dann gar die Schützen, die mitten im Schritt innehielten, den Hauptmann, der seinen Säbel hoch erhoben hatte, zur Seite stumm und starr die zwei Schützenbüblein. Auch die Schildhofbauern konnten dem Zauber nicht widerstehen - sie glichen erstarrten Wächtern einer Heilig-Grab-Kapelle.

Manch einer wollte sich noch rühren und umschauen - aber da war er erstarrt, den Kopf nach rückwärts gewandt. Die Musik, die Trommler und Schwegler, hatten urplötzlich aufgehört zu spielen und der letzte Ton verklang wie ein weher Schrei. Eine ungeheure Stille und innere Erregung lastete über diesem seltsamen Bild. Der Zug der Frauen war ebenfalls stillgestanden. In ihren Gesichtern spiegelte sich Angst und Entsetzen. Manch eine hatte noch den Mund zum Gebet geöffnet, andere wollten entsetzt aufschreien - aber sie mußten stumm den Zauber erdulden.

Ebenso erging es den Himmelträgern. Mit verzweifelter Kraft suchte der Dekan die letzten Schritte zu machen, perlender Schweiß rann ihm von der Stirn. Aber auch er mußte endlich dem ungeheuren Zauber gehorchen. Wie eine Statue stand er da, mit den ausgestreckten Armen hoch erhoben das Höchste Gut tragend! Beim Dekan brauchte Huisile am längsten, und er erzählte später, daß es leicht gegangen war, die Prozession zu stellen, aber das Höchste Gut ging zuletzt doch fast über seine Kräfte.

Plötzlich packte den Zauberer selber die Angst, so sehr ihn zuerst der Übermut getrieben hatte. Eiligst wollte er daher sein frevelhaftes Beginnen wieder gut machen und den Zug in Bewegung setzen. Aber wehe! Alle Zauberkraft schien auf einmal zunichte geworden zu sein, die Zauberworte halfen nichts. Huisile suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Der Schweiß rann ihm über Stirn und Gesicht, doch die Prozession hat er "nicht mehr anderlassen!" Endlich aber, da unser Herr selbst genugsam über die Ohnmacht des Bösen gerade in seiner Macht gelächelt haben mochte, kam doch wieder Bewegung in die Reihen der starren Menschen. Der Dechant machte den ersten Schritt, dann folgten die Himmelsträger, die Buben streckten sich, die Schützen marschierten und die Musikanten spielten weiter, wo sie aufgehört hatten - und flehend klang das Gebet der erschrockenen Frauen!

Quelle: Pfeifer Huisile, Der Tiroler Faust, Hermann Holzmann, Innsbruck 1954, S. 51 - 53.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Februar 2005.