Ein Tröpflein ist ihm zu früh ausgerunnen

Nun blieb dem Hexenmeister noch eine große Aufgabe übrig, nämlich das Sarntal. Er stand sich mit den Sarnern an sich recht gut. Er unterhielt sich mit ihnen, er zauberte, er arbeitete sogar mit ihnen, und den wildbachbedrohten Bauern von Pens errichtete er sogar eine roh aufgeschichtete Riesenmauer. Diese trennt noch heute die oberen und unteren Kranzner Felder in Pens. Ihre Länge beträgt ungefähr 200 Meter, ihre Breite fünf bis sechs Meter, während ihre Höhe stellenweise zwei Meter und darüber erreicht. Trotz ihres Alters sind die rohen, blockigen Steine nicht von Moos oder Unkraut bewachsen. In nächster Nähe des Hochkoflerhofes gelegen, kann sie leicht von der Straße aus gesehen werden. Allen Respekt vor dem sonst keineswegs arbeitseifrigen Hexenmeister, denn hier hat er ein Werk hinterlassen, das sich in seiner zyklopenhaften Art auch von der Nachwelt sehen lassen kann!

Mit den Sarnern also stand Hiesele - wie er von den Sarnern genannt wird - recht gut. Aber einmal haben sie ihn doch "derkeit", so daß er sich vornahm, auch im Sarntal ein Exempel zu statuieren. Er wollte das ganze Tal mit Putz und Stingel "außenschwenzen". Tagelang führte er in einem offenen "Reiter" (Sieb) das zauberstarke Wasser vom Durnholzer See auf das Durnholzer Joch, dann wieder hinunter nach Pens und wieder hinauf auf das Joch von Murdatsch. Es muß ein g'spassiges Gespann gewesen sein - Hiesele und die drei Katzen mit einem offenen Reiter voll Wasser!

Schon stand das Zauberwasser auf dem Joch von Murdatsch bereit und Huisile wollte sein Werk unter Blitz und Donner beginnen:

"Wasserle rinn,
Wasserle brinn",

hat er beschwörend gerufen. Unversehens aber ist ihm ein einziges Tröpflein des Zauberwassers zu früh aus dem "Reiter" gespritzt, und schon fuhr eine fürchterliche Güsse in das Tal und riß einen tiefen Graben aus. Ein Tröpflein war also schon so stark. Bevor aber Huisile das andere Wasser auslassen konnte, wurden die frommen Bauern vom Sarntal gewarnt und läuteten sofort die starken Wetterglocken. Damit war der Bann gebrochen und die Kraft des Zauberwassers zunichte. Das ganze Tal war in wilden Aufruhr gekommen. Bis Meran hinaus stimmten die Wetterglocken mit ein, und endlich erhoben sogar die wetterstarken Glocken von Sankt Pauls und Marling ihre eherne Stimme. Gegen diese Kräfte des Himmels konnte Hiesele nichts ausrichten und mußte unverrichteter Dinge wieder abziehen. Er hatte nur einen Güssegraben aufgerissen. Wie furchtbar aber wäre die Katastrophe geworden, wenn es ihm gelungen wäre, das Zauberwasser auf einmal in das Tal zu schütten, wenn schon ein einziges Tröpflein eine solche Wirkung hatte! Grimmig und verächtlich erzählte Hiesele im ganzen Lande:

"Wenn die Sante Hannes (oder Santer) Schelliler
Und der Paulser Kühstier
Und die Marlinger Facklsau
Nit geläutet hätten,
Dann hätt i 's Talile außeng'schwenzt...!"

Es hatte schon Pech, das arme Hiesele!

Quelle: Pfeifer Huisile, Der Tiroler Faust, Hermann Holzmann, Innsbruck 1954, S. 79 - 82.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Februar 2005.