DER DREIFINGERSCHATZ

Unter den mächtigen Zacken und Zinnen der Hochalm und des PizdaPeres, welche das Rautal vom Pustertal scheiden, ist an einer völlig unzugänglichen Stelle mitten in den Felsen ein Schatz verborgen, der von den benachbarten hochthronenden Bergspitzen seinen Namen Dreifingerschatz" erhalten hat, Er blüht entweder am Abend vor Sommersonnenwende oder vor dem Hohen Frauentage, da die Mutter Gottes zum Himmel fuhr, und macht sich dann weithin durch ein hellaufloderndes Feuer oder ein ungewöhnlich helles Licht bemerkbar.

Bewacht wird der Schatz von einem winzigen, aber überaus streitbaren Bergmännlein und von einem schwarzen Gemsbock mit großmächtigen Hörnern, der unaufhörlich von einem Ende des Reviers zum andern springt und scharf in die Gegend äugt. Schon viele haben es versucht, den Schatz zu gewinnen, aber immer vergeblich. Einer aus Enneberg, der auch kein heuriger Hase mehr war und das Fürchten nicht zu kennen glaubte, stieg keck und mutig hinauf bis zur Schatzhöhle, aber aus dem Felsenloch qualmte ein solcher Pestdampf hervor, daß der Mann den Schatz in Ruhe ließ. Dieser Schatz, sagen die Leute in Enneberg, wächst noch immerfort an, indem ihm die jährlichen Zinsen zufallen.

Da lebte einmal in Geiselsberg ein Schuster, namens Jörgl. Er war in seinem Hauswesen ein ewiger Nöter, denn Arbeit gab es für ihn im kleinen Dorf wenig und der hungrigen Mäuler bei ihm daheim viele, auch hätte er gern ein wenig gegolten in der Gemeinde. Und er sagte zu seinem Weibe: "Wenn wir den Schatz gewinnen, bin ich der reiche Schuster und du des reichen Schusters Weib, also wagen wir's!" Das Weib hatte gegen den Reichtum ihres Mannes nichts einzuwenden und ging mit. So stiegen sie zum Felsgrat hinauf, wo der Schatz war. Und sie hatten sich einander das Wort gegeben, sich vor nichts zu fürchten. Aber als sie nun oben waren und vor der Schatzhöhle haltmachten und hineinlugten in das finstere Loch, da ging ein Sandregen aus dem Loch über die beiden, und sie hörten ein so entsetzliches Poltern und Stampfen darin, daß sie über und über erschrocken den Berg hinabliefen.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 630