DER NÄCHTLICHE LEICHENZUG
Sehr häufig findet sich in Tirol die Sage vom nächtlichen Leichenzug. Der Erzähler erinnert sich noch recht gut, wie es ihn gruselte, wenn er als Kind etwa einmal des Abends den Weg zwischen Sarns und Milland bei Brixen zurücklegte, denn auch da, näher beii Sarns, unter dem Razözerschloß, bewegt sich der gespenstische Zug.
Diese Sage ist nun auchin Enneberg verbreitet. Wo der Leichenzug hält und der Sarg niedergestellt wird, stirbt eins aus.
Ein Enneberger ging einmal um Mitternacht den Weg zwischen der Burg Asch und dem Dorf Plaiken. Da begegnete ihm zu seinem größten Schrecken ein Leichenzug. Die Leute waren alle schwarz gekleidet, und vier schwarze Männer trugen den Sarg. Sie hatten alle Lichter in den Händen und gingen eigentlich nicht, sondern schwebten nur so vorwärts. Dabei murmelten sie ein Gebet, wovon er aber nichts verstehen konnte.

Er wollte dem Zug aus dem Weg gehen, weil er sich gewaltig fürchtete, aber im nächsten Augenblick waren schon die Träger mit dem Sarg vor ihm. Er kniete daher nieder und ließ den Trauerzug vorbei.

Zuletzt, weil ihm nichts geschehen war, erfaßte ihn die Neugierde, und er schloß sich betend den letzten im Zuge an, um zu sehen, wo der Tote begraben würde. In Plaiken aber hielt der Zug, die Träger setzten den Sarg vor einem Haus auf dem Boden ab, und das Bäuerlein sah nun, daß der Sarg leer war. Nach einigen Augenblicken nahmen sie den Sarg wieder auf, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Einige Schritte außer dem Dorfe löste sich alles auf und verschwand. Am Tage darauf wurde die Nachricht verbreitet, daß der Bauer, vor dessen Haus der Sarg niedergestellt worden war, in der Nacht verstorben sei.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 587