GESPENSTERSPUK IM RAUTAL

Südöstlich vom Dorf St. Vigil in Enneberg beginnt das wildromantische Rautal und zieht sich, fast unmerklich ansteigend, etwa drei Stunden in die Welt der Dolomiten hinein, deren steile Felsgehänge mit allem Zauber des Wunderbaren das einsame Tal umschließen. Da steht weder Dorf noch Einzelhof, alles Wald und inmitten desselben da und dort, traumhaft still, wie verzaubert, ein wundersam umrissener See.

Ungefähr halben Weges hinein überrascht den Wanderer plötzlich eine grüne Almweide, Tamers genannt, auf welcher die Enneberger etliches Weidevieh stehen haben. Einmal übernachtete im Spätherbst ein Jäger in einer Hütte auf Tamers. Um Mitternacht hörte er Schellengeklingel und Meckern von Ziegen. Er wußte, daß in dieser Jahreszeit sich kein einziges Stück dieser Tiere mehr da aufhalte, stand daher neugierig auf und lugte durch die Türspalten hinaus. Da sah er ein kleines Männlein in Jägertracht mit grünem Hut und zu seinen Seiten die zwei schwarzen Hunde. Ringsherum war eine große Schar von Ziegen, darunter ein schwarzer Bock, dessen Zotteln bis an den Boden reichten. Der kleine Jäger lachte in einem fort hell auf. Der ganze Zug bewegte sich aber so schnell wieder von dannen, daß im nächsten Augenblick, dem abnehmenden Lärm nach zu schließen, der Spuk schon eine gute halbe Stunde von der Hütte entfernt sein mußte. Lange noch hörte der Jäger in der Schupfe das laute Lachen des Männleins von einem Felsen herab, auf den es mit seinen Geißen gestiegen war. Der Spuk verursachte dem Jäger solchen Schrecken, daß er zeitlebens nimmer im Rautal zu jagen wagte.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 590