DIE GOLDENE TAUBE

Ober dem Dorf Nals thront das Schloß Payrsberg. Vor alten Zeiten hauste auf dieser Burg ein reicher und mächtiger Herr und lebte lange Zeit glücklich mit seiner edlen Gattin, welche ihm ein Söhnlein geschenkt hatte.

Aber einmal mußte der Ritter weit fort in den Krieg ziehen, und weil er inzwischen einen feindlichen überfall fürchtete, wollte er seine Schätze in Sicherheit bringen. So goß er goldene Kugeln, überzog sie mit Blei und vergrub sie. Aus einem Teile des Goldes aber goß er Tauben und andere Vögel, strich sie schwarz an, so daß sie aus Eisen gemacht schienen, und stellte sie auf Kästen und Fensternischen, wie zur Zierde, hin.

Dann zog er fort. Lange, lange Zeit verfloß, bis er wieder heimkehrte. Doch ach, unterdessen waren Gattin und Söhnlein gestorben; auch der Ritter starb bald darauf aus Gram, ohne jemandem vom Schatz etwas gesagt zu haben. Ein anderes Geschlecht gelangte in den Besitz des Schlosses. Die Kindsmagd, die allein noch von den früheren Ehehalten auf dem Schlosse geblieben war, erbat sich von der neuen Herrschaft ein Andenken an ihre frühere, der sie stets in Liebe und Treue ergeben war. Weil man sie wählen ließ, nahm sie eine von den schwarzen Tauben, mit welchen das Knäblein der früheren Herrschaft, ihr Augapfel, so oft gespielt hatte. Damit zog die Dirn ins Dorf hinunter und lebte dort in größter Armut und Niedrigkeit.

Einmal fügte es der Zufall, daß sie hinter den großen Wert kam, den der schwarze Vogel besaß; er war aus purlauterem Gold. jetzt kam die arme Dirn auf einmal zu großer Geltung; sie heiratete einen braven Bauern, und von ihnen stammte ein reiches Bauerngeschlecht, das noch heute blüht. Die Kugeln aber liegen immer noch im Schlosse Payrsberg vergraben und harren des glücklichen Finders.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 507