VÖRANER LORGGEN

In Vöran, beim Stegerhof, hauste vorzeiten ein Norgg. Dieser stellte einmal einen Hirten auf die Probe.

Der Hirte war mit seinen Tieren auf der Bergweide, als er plötzlich ein klägliches Ächzen und Stöhnen, jammern und Weinen vernahm. Er ging der Stimme nach und fand in einer Klamm einen Norgg, der zwischen zwei Felsen eingeklemmt war, ohne sich, wie es schien, selber heraushelfen zu können. Auch die Mühe des Hirten, den Norggen herauszuziehen, war fruchtlos, und so holte er zumindest ein Gefäß mit Milch und stellte es dem Männlein hin, auf daß dieses nicht verschmachte.

Als der Hirte am andern Tag die Schüssel holen wollte, um neue Milch einzufüllen, war der Zwerg verschwunden, aber die Schüssel war voll Silbergeld!

Solcher Tausch freute den Hirten gar sehr, und er meinte nichts Besseres tun zu können, als selbigen Handel fortzusetzen; denn es war alsbald in ihm die Habgier wach geworden. Nicht mehr in der edlen Absicht, wie tags zuvor, wo er ohne Aussicht auf Lohn dem Leidenden Labung geboten hatte, sondern in der Aussicht auf abermaligen Gewinn setzte er wieder eine Schüssel voll Milch an dieselbe Stelle. Aber wie er am andern Tag nachsah, war die Schüssel voll Blut. Von dem Norggen sah er nie wieder eine Spur.

Quelle: Alpenburg, Johann Nepomuk Ritter von, Mythen und Sagen Tirols. Zürich 1857. S. 119 f.