DER MENSCHENZAHN

Ein Bauernmädchen in Schenna, das erst zwanzig Jahre zählte, aber kränkelte, fand auf einem Grabe dort einen weißen, schönen Menschenzahn. Er gefiel ihr, sie nahm ihn mit nach Hause und tat ihn in ihre Truhe.

Als sie nachts allein in ihrer Kammer lag, hörte sie ein unheimliches Geräusch. Sie horchte und fand, daß es aus dem Schrein kam. Es war, als ob jemand von innen öffnen oder den Deckel heben wollte. Sie dachte an den Totenzahn, nahm ihn morgens heraus und legte ihn auf dem Friedhof an derselben Stelle nieder, wo sie ihn gefunden hatte, und betete andächtig für den Verstorbenen.

In der folgenden Nacht aber rumorte es wieder in der Truhe bis zum Morgenläuten. Als sie die Truhe am frühen Tage öffnete, war der unheimliche Zahn darin an der vorigen Stelle. Sie nahm ihn, trug ihn fort und warf ihn betend in die "Beingruft". Da gab es ein Gerassel, als würde ein ganzer Korb voll Gebeine ausgeschüttet!

Nach dem Zwölfuhrläuten öffnete sie die Truhe - und da fand sie den weißen Zahn schon wieder! Sie erschrak heftig und rief: "Das ist mein Tod!" Sie wagte nicht mehr, den unheimlichen Zahn anzurühren, saß aber betend bei der Truhe. Da holte man den Pfarrer, der den Schrein öffnete den Zahn nahm, ihn segnete und auf den Friedhof trug, wo er ihn in frischgeweihter Erde begrub. Der Priester kam zurück, um das verängstigte Mädchen zu trösten. Da sagte sie: "Der Zahn ist wieder in der Truhe." Der Pfarrer erwiderte: "Das kann nicht sein", öffnete den Schrein - und der Zahn lag an der alten Stelle! Der Geistliche selbst getraute sich nun nicht, den Zahn anzurühren.

In der folgenden Nacht starb das Mädchen, und als der Pfarrer den Schrein öffnete, war der Zahn verschwunden. Kurz vor dem Tode soll sie gesagt haben: "Jetzt weiß ich, von wem der Zahn ist."

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 496, S. 275 f.