DAS VERGESSENE KIND BEIM SCHATZ

Wenn einer sich in der Johannisnacht um 12 Uhr in den Keller der alten Burg Pretzenberg in Welschnofen hineinwagt, sieht er dort den Schatz und kann ihn auch leicht bekommen; er braucht nur etwas Geweihtes daraufzuwerfen.

Einmal ging zur bestimmten Stunde ein armes Bauernweib in den Keller und nahm zur größeren Sicherheit ihr kleines Kind mit, denn sie glaubte, die Nähe des unschuldigen Kindes werde allen Zauber verhindern. Der Keller führt aber tief in den Berg hinein, und als das Weib das Ende des unterirdischen Ganges erreicht hatte, erblickte es einen steinernen Tisch, auf welchem ein Haufen Goldmünzen lag. Sie setzte das Kind auf den Tisch und füllte den Sack, den sie zu dem Zwecke mitgenommen hatte, mit dem Gold.

Auf einmal sah sie im Hintergrund des Loches eine weiße Gestalt und erschrak so sehr, daß sie eiligst hinauslief. Den Sack, in welchen sie schon ziemlich viele Goldmünzen gesteckt hatte, trug sie mit sich, und so war ihr aus der Not geholfen. Aber das Kind! Ja, das Kind hatte sie vergessen zu nehmen und grämte sich nun so sehr darüber, daß sie trotz des Geldes keinen frohen Augenblick mehr hatte. Sie klagte ihren Jammer dem Geistlichen des Ortes, und dieser riet ihr, übers Jahr in derselben Nacht das Kind zu holen. Das Weib tat es und fand wirklich ihr Kind auf dem gleichen Platz, mit blanken Goldstücken spielend. Sie nahm es geschwind und trug es ungehindert hinaus.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 386