Rosetta.

Von San Martino die Castrozza führt ein Steiglein in weitem Bogen, bald mehr gen Mitternacht, bald mehr gen Sonnenaufgang gewendet, hinauf zum viel besuchten, herrlichen Rosettapass. Etwa nach einer Stunde Weges - einen guten Büchsenschuss vom Pfad entfernt - stand linker Hand vordem eine schmucke Hütte.

Heute ist von ihr freilich keine Spur mehr zu finden. In das Haus des Glücks ist das Unheil eingezogen und hat sich immer breiter gemacht in den freundlichen Gemächern, in Küche und Keller, in Stube und Stall. Es zersprengte die Wände und versengte das Dach. Aus der Asche der verkohlten Balken und Dielen wuchsen neue Alpenblumen und würzige Kräuter. Von den paar Steinen, die einstmals die Grundmauern des Hauses gebildet hatten, haben Regen und Schnee längst wieder Rauch und Ruß abgespült. Was Menschenhand getürmt und geschichtet, haben die Jahre, haben Wetter und Sturm, Schneelahnen und Muren längst wieder zertrümmert und verstreut.

Denn es ist schon lange her. Der alte Simon Riz hatte das Häuslein gebaut und Wiesen und Felder bestellt. Als ihm seine treue, arbeitsfrohe Juliana starb, war ihm an seinem einzigen Sohne, dem jungen Bernard, bereits ein rüstiger Geselle erwachsen, brauchbar zu allem, bei jedem Werke tüchtig und verlässlich. So konnte Simon nach wenigen Fahren sein Haupt sorglos zur langen Ruhe legen und seinem Erben getrost Haus und Hof überlassen.

Der Wohlstand wuchs, Bernards Fleiß und sehnige Kraft reichte schon nicht mehr aus, um alles zu besorgen, was er ererbt und was er sich durch eigene Tüchtigkeit errungen hatte.

Da stellte sich ihm eines Tages ein Mägdlein von zarter Gestalt und ausnehmender Schönheit als Helferin. Bald hütete sie die Schafe, bald half sie ihm auf Wiesen und Feldern, und was sie unternahm, das gelang noch weit besser, als es früher dem jungen Bauern allein gelungen war. Bernard konnte sich oft nicht genugsam darüber wundern, wie das feine, schwache Mägdlein in jeder Arbeit, auch in der härtesten, ihn, den starken Mann, spielend übertraf. War jedoch das wieder getan, was der Bauer allein nicht schaffen konnte, so blieb die emsige Helferin oft wochenlang dem Hofe fern.

Erst schätzte der junge Riz ihre Hilfe, ihre ganz wunderbare, rätselhafte Geschicklichkeit, ihre ungeahnte Kraft, dann sah er, wie ihr das Haar in goldenen Wellen flutend und glutend vom Scheitel fiel, welch seliges Lächeln ihren roten Mund umspielte, welch frohe Milde im Blick ihrer Augen lag, dann hörte er ihr silberhelles Lachen, ihren schmeichelnden Gesang und den Wohllaut ihrer Rede. Anfangs hatte er kaum verstanden, was sie sprach, denn das Mägdlein plauderte, als es die ersten Male beim Rizhof erschien, eine ganz fremde, nirgends im Lande erhörte Sprache. Doch gar erstaunlich bald hatte es sich die Mundart der Gegend angeeignet. Und klang auch ihre eigene Sprache, in der sie auch jetzt noch bisweilen sang, viel schmeichelnder noch und entzückender, so tönte doch von Paneweje bis Primör keines Menschen Rede so freundlich und so lieblich wie die landesübliche Sprache aus ihrem Wunde.

Manch einsamen Abend saß Bernard mit sehnendem Herzen vor seiner Hütte und sah den goldenen Sonnenball hinter den Fleimser Bergen versinken, Hatte er übermäßige Arbeit auch sein Leben nie gescheut, jetzt freute er sich auf Mühen und Plagen. Denn nur an einem Morgen, an dem er kaum wusste, wo er zuerst Hand anlegen sollte, da stellte sich sein Zärtelein ein, sonst wartete er immer vergebens.

Eines Abends, als sich das Mägdlein schon wieder zum Fortgehen schickte, hinauf zum Patz, fasste es Bernard bei ihrer weißen Hand und küsste sie.

"Bleibe bei mir und werde mein Weib, sonst muss ich sterben vor Sehnsucht nach deiner Nähe."

Da schüttelte die Vielholde traurig das Haupt und sprach:

"Ich bin nicht aus deinem Stamme, nicht aus dem Geschlecht der Menschen, ich bin eine Ganna. Wir sollen keine Gemeinschaft mit euch haben, weil unsere Liebe viel tiefer und viel, viel unendlicher als die eure ist."

Bernard aber beteuerte: "Liebst du mich nicht wieder, so werde ich sterben vor Gram, das weiß ich."

"Ist deine Liebe auch zum Sterben stark genug, so fürchte ich doch, sie ist zu schwach zu unserem Glücke.

Willst du mich auch niemals fragen, wie ich heiße?"

"Wenn du das forderst, will ich es vermeiden, dich so zu nennen, wie du dich selber nennst. Ich will dich Mia rufen, das heißt die Meine, und dieser Name passt für dich, so kann dir kein anderer ziemen."

"Willst du mich auch niemals schlagen, im Scherze nicht und nicht im Ernst? So dein Handrücken meine Stirne, kosend oder strafend, berührt, ist unser Glück zertrümmert."

"Schlage ich dich, du Holde, so schlage mich der Blitz und zermalme mich der Donner. Wie gering denkst du von Menschenliebe, wenn du solche Bedingungen setzen musst!"

"So will ich die Deine werden, ganz die Deine, du Lieber. Nur mein Haar darf dir nicht angehören. Versprich mir, niemals, gar niemals mit meinen goldenen Strähnen zu kosen und zu spielen. Selbst des Nachts soll mein Gelock über den Bettrand hinunterhängen und den Boden berühren. Ziehst du meine Haare aber auch nur einmal ins Bett, so trifft dich und mich Unheil. Dann müsste ich von dir scheiden, Liebster, mit allem, was ich dir zugetragen, mit Kindern und Segen, mit Frohsinn und Glück."

"Ich will's so halten", sprach Bernard.

Er fragte seine Mia niemals, wie sie von ihren Schwestern geheißen wurde, er berührte ihre Stirne niemals anders als mit seinem küssenden Munde, er hütete sich, ihr goldenes Haar zu streicheln. Wohl hätte es ihn oftmals dazu getrieben, doch schon, wenn sich sein Auge an dem Glänze der goldenen Wellen weidete, wurde ihr Blick ernst und bat ihn fort. So wagte er es auch niemals, das Gebot zu übertreten. Sieben Kinder hatte sie ihm schon geboren, Mägdlein und Knaben, schön wie die Sonne, sanft wie der Mond. Als der reichste Bauer galt er weit in der Runde und noch hatte kein leichtes Wölklein den Himmel ihres Glückes getrübt.

Da lag sie eines Nachts neben ihm. Der Mond ergoss sein Silber in die stille Kammer, doch wie leuchtendes Gold wallte es von ihrem Haupte nieder zum Boden. Wie immer hing ihr Haar auch damals den Bettrand hinaus. Er dachte bei sich:

"Sie sieht es ja nicht und kann es nicht strafen."

Wohl schien ihn durch die geschlossenen Lider ein ernster Blick zu warnen. Doch er wandte seine Augen ab und fuhr ihr liebkosend über das goldblonde Haar.

Sie erwachte nicht, da steigerte sich sein Begehren.

"Nur einmal sollst du die meine sein, goldene Mia, nur einmal ganz mein, mein ohne Beschränkung und ohne Vorbehalt."

Er zog das goldene Haar zu sich ins Bett und berauschte sich an seinem Dufte. Dann schlief er ein.

Als er erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel, doch im Hause war es noch still und öde wie um Mitternacht. Er erschrak. Leer war das Bett, Mia verschwunden, kein Kind zu sehen in Haus und Feld.

Umsonst suchte Bernard den ganzen Tag nach seinen Lieben. Oben auf dem Pass meinte er einige Male, es rufe ihn Mia bei seinem Namen, und plötzlich trieb ihm der Wind einen zierlich geschriebenen Zettel zu. Darauf stand:

"Kehre nicht mehr ins Haus zurück, Bernard, die Winde werden es zerfahren. Du ungetreuer, lieber, süßer Mann, Dich grüßt Rosetta, die Ganna, die Du Mia nanntest."

Noch lange zögerte Bernard, das Heim des Glückes zu verlassen, er hoffte noch immer auf Mias Wiederkehr. Doch sie kam nicht, und gebrochen und vernichtet, wie er war, hielt er dem Unheil nicht stand und konnte die Not nicht aus Küche und Keller bannen, das Elend nicht vertreiben aus Stall und Stube. Endlich ergriff er den Wanderstab und starb in weiter Ferne als freudloser Mann.

In das Haus des Glückes aber schlug der Blitz und zerstörte es vom Grunde aus. Heute findest du kaum mehr eine Spur von seinen Mauern.

Quelle: Laurins Rosengarten, Sagen aus den Dolomiten, Franz S. Weber, Bozen 1914, S. 128-134.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bernd Wagener, März 2005.