STARKWÖLFEL

Als ich und Du noch mit den Mücken flogen, lebte auf dem Wölfelhof am Reggelberg im Wölflhof ein Mensch von so übermenschlicher Kraft und Stärke, daß weit und breit kein solcher umging. Und weil er so stark war, wurde er einfach Starkwölfel genannt.

Einmal ging der Starkwölfel in Bozen über den Kornplatz, wo die Bauern aus der Umgebung ihr Korn zum Verkaufe boten, und fragte einen der Bauern, der da einen gewaltigen Sack Korn feilbot: "Was kostet dies Säckle (Säcklein)?"

"Was Säckle?" sagte der Bauer überrascht und schaute ihn über eine Weile groß an, "da sind ja zwölf Star Korn drinnen!"

Der Starkwölfel aber ertrug das Anschauen leicht und meinte dann- "Das Säckle trag ich auf dem Rücken ham (heim)!"

Der Kornbauer musterte den Wölfel nochmals von unten bis oben und sagte dann, in der Meinung, einen argen Prahlhans vor sich zu haben: "Wenn du diesen Sack auch nur aufzuheben imstande bist, soll er dein sein!"

Und ob der Starkwölfel imstande war! Er lupfte den Riesensack auf die Schulter und ging, ohne sich weiter umzusehen, durch die Stadt hinaus und dann über den Berg hinauf. Als er nach Kampenn kam und die Nüsse schön reif sah, dachte er. "Ich muß doch meinen Kinderlen eppes (etwas) aus der Stadt mitbringen", ging in den Acker hinein, riß dort einen Pflug aus der Furche und schlug damit vom Baum einen Haufen Nüsse herab. Dann bückte er sich - immer noch den großen Kornsack auf dem Rücken - hob alle Nüsse auf und sammelte sie in einen eben daliegenden Sack, bis keine mehr waren, schwang auch diesen zweiten Sack noch auf die Schulter und ging weiter bergauf, bis zu seinem Hof, und zu rasten wäre ihm gar nicht einmal eingefallen.

Im Eggental unten lag ein hausgroßer Stein über dem Wege, ein Murbruch hatte ihn dorthinab gefegt. Dieser Stein mußte weggeschafft werden, sonst kam keiner mehr ins Eggental hinein und aus diesem hinaus; aber niemand war imstande, ihn von der Stelle zu bewegen. Als der Wölfel oben in Deutschnofen davon hörte, daß die Eggener mit Eisenstangen ausgezogen wären, den Stein auf die Seite zu bringen, und hätten ihn doch keinen Finger weit gelupft, da lachte er grimmig auf, stieg hinab ins Tal, lachte noch einmal und rollte dann den Riesenstein über den Weg hinaus, als wär's nur eine Kegelkugel.

Einmal tauchte zu seiner Zeit ein so großer Bär im Lande auf, daß sich kein Jäger an ihn traute, obwohl er doch so gewaltigen Schaden tat. Wie der Wölfel über den Bären reden hörte und daß er den Leuten so großen Schaden täte, machte er sich auf den Weg dorthin und suchte den Bären in seinem Revier auf. Als das grimmige Tier herbeitrollte und schon den Rachen aufriß, um ihn zu verschlingen, da stieß ihm der Wölfel die Faust so stark in den Schlund und drückte ihn so fest an eine Felswand, daß das Untier alsbald verenden mußte.

Als die Leiferer einmal von einem grimmigen Drachen heimgesucht wurden, wandten sie sich auch an den Wölfel um Hilfe. Als er hörte, daß dieses Ungeheuer die Fuhrleute, die auf der Landstraße unterwegs waren, überfiel und überdies die Gegend ringsum mit seinem giftigen Atem verpestete, machte er sich alsbald auf, um dieser Landplage ein Ende zu machen. Er fand den Drachen in einer Höhle auf dem sogenannten Schmalberg, richtete einen Felsblock ober dem Höhleneingang auf und stellte dann rasch ein Schaff voll kuhwanner Milch vor die Höhle hin, womit er das Tier anlocken wollte. Es dauerte nicht lange, so wälzte sich der Drache, vom süßen Duft der Kuhmilch angezogen, aus der Höhle und begann die Milch zu saufen. In diesem Augenblick nun ließ der Starkwölfel, der ober dem Höhleneingang gewartet hatte, den riesigen Felsblock fallen und traf den Drachen dergestalt, daß er auf der Stelle verendete. So hatte der starke Wölfel die Leiferer für immer von dieser großen Plage befreit.

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 219, S. 135