Die verlorne Geiß.

Es war einmal - vor langer Zeit -
Ein Hüterknechtlein auf der Meid,
Hütet im Walde unter dem Schlern
Schafe und Geißen für seinen Herrn.
Doch wie er so auf der Wiese saß
Und über die Heide blickte,
Über gelbe Blumen und grünes Gras,
Da war er müde und nickte
Ein wenig ein und sank zurück.
Er träumte von einem hohen Glück,
Das kam ihm schmeichelnd entgegen,
Doch er war blöd und verlegen,
And anstatt zu greifen mit frischer Hand,
Schaut er träumend nach, wie es entschwand.
Und als es im Nebel verschwunden war,
Weinte er bitter im Schlafe
Und schlug sich die Stirne und raufte das Haar
Und erwachte.
Die Geißen und Schafe
Grasten um ihn her im Kreis,
Die Sonne aber schien minder heiß,
Der Tag ging schon zur Neige.

Da sprang das Knechtlein empor gar bald
And trieb die Herde durch den Wald
Entlang die holprigen Steige.
Als er sie in den Stall gebracht -
Es dunkelte schon und war bald Nacht -
Bemerkte er zu seinem Schrecken:
Die schwarze Geiß mit den lichten Flecken,
Der Bäurin Liebling und seine Pein,
Fehlte schon wieder - wo mochte die sein?
Die Bäurin war ihm wenig günstig,
Das wusste er seit dem letzten Pfinztig
Und erst der Bauer - der Huber Joch,
Das war der allergröbste Zoch
Von Völs bis Ulrich, der grimmste von Seis,
Der schlug ihn zum Krüppel, verlor er die Geiß.

So ließ denn das Knechtlein die Suppe im Stich,
Obgleich ihm der Wagen krachte,
Und nahm seinen Stecken wieder und schlich
Vom Hofe weg heimlich und sachte.
Das holprige Steiglein wieder zurück
Zum Wald und den Almenwiesen,
Wo er geträumt von Freude und Glück
Und Freude und Glück ihn verließen.

Er suchte hinter jedem Stock
Und rückte Zweig und Spreislein,
Bald meckert er wie ein Ziegenbock
Und bald wie ein hilfloses Geißlein.
Er stieg hinauf und kroch hinab,
Horchte und lauscht in die Runde -
War alles Stille wie im Grab
Und Stunde verging auf Stunde.
Schon stieg der Mond am Schleim empor,
Ein eiskalter Wind umsauste
Das arme Knechtlein, das elend fror
Und dem vor dem Heimweg grauste.
Und wieder begann er beim matten Licht
Des Mondes zu forschen, zu suchen
Und fand die schwarze Geiß doch nicht,
Es half kein Beten und Fluchen.
Schon dämmerte im Osten der Tag -
Was mochte der wohl bringen?
Manch harten Puff, manch groben Schlag,
Scheltreden, keine geringen.
Und immer weiter im Zwielichtschein
Kam er von den Höfen der Bauern,
Dort drüben ragte der Hauenstein
Mit seinen bröckligen Mauern.

Und ist das Teufelstier - die Geiß -
Auf diesem Pfad zufälligerweis
Den Berg heraufgekommen -
Hier kann kein Suchen mehr frommen.
Verloren ist, wer je betritt
Den Hauenstein, und jeder Schritt
Bringt neues Entsetzen und Trauen.

Dann schießt ihm wieder durch den Sinn:
Viel ärger als bei der Huberin
Und bei dem Bauern, dem rauen,
Kann es auch auf dem Hauenstein,
Beim Teufel selber nimmer sein.

Ein geheimes Sehnen zieht ihn fort
Hinauf an den verrufnen Ort.
Und wie er sich über die Steine schwingt
Und duckt durch geborstene Fenster -
Eine wonnige Weise ans Ohr ihm klingt -
Sind das die verruchten Gespenster?
Urplötzlich hält er betroffen jäh
Und fühlt, wie die Pulse stocken -
Auf einem Felsen in nächster Näh
Sieht er eine Salige hocken.
Die goldnen Haare flattern im Wind,
Ihr Gewand ist ein zitternder Schleier,
Und schüchtern naht er dem minnigen Kind
Als der ungeschickteste Freier.
Er fällt ihr zu Füßen und blickt sie an,
Gleich schwinden Not und Beschwerde,
Es erfüllt ihn der selig entzückende Wahn,
Als sei er entrückt dieser Erde.
Sie fährt ihm mit ihrer zarten Hand
Liebkosend über die Locken.
Er schaut ihr ins Auge unverwandt,
Begeistert halb und erschrocken.

Da hebt sie ihn von der Erde empor
Und schließt ihn in ihre Arme,
Durch den spinnwebfeinen, wehenden Flor
Schlägt ihm entgegen das warme,
Liebdürstende Leben, mit Küssen heiß
Bestürmt sie Lippen und Wangen
Und raunt ihm kosend zu ganz leis:

"Nun, Liebster, darfst du verlangen,
Was immer nur in deinem Sinn,
Und alles sollst du haben,
Weil ich dir, feinem Knaben,
Hold und ergeben bin." -

Doch das Huberknechtlein war nicht gescheit.
Sah auf die engelschöne Maid
Gar kühl wie ein heimlicher Bronnen,
Hat sich auch nicht lange besonnen,
Dann bittet er innig und flüstert leis:

"Die Geiß möcht ich wieder, die schwarze Geiß."

Da fährt aus dem Himmel ein zuckender Strahl,
Die Salige schwindet mit einem Mal,
Der Bub liegt ausgestreckt im Grase
Und spürt im Gesicht eine kalte Nase,
Es kitzelt ihn ein struppiger Bart
Und meckern hört er's nach Ziegenart.

Quelle: Laurins Rosengarten, Sagen aus den Dolomiten, Franz S. Weber, Bozen 1914, S. 54-58.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bernd Wagener, März 2005.