Eine wahre Geschichte

als Einleitung.

Das Neasele - so hieß man sie im ganzen Dorfe, Agnes stand in ihrem Taufschein - saß unter dem großen Nußbaum an der Straße, die von Brixen in das liebe Bergdörfel Vahrn führt, und hielt ihre Früchte feil, Zwetschken undBirnen. Eine Schar von Kindern leistete ihr Gesellschaft, denn das Neasele war selber noch ein halbes Kind.

Eine Zwetschke jedem Kind, das ließ sie sich ja gefallen, doch dann hätte sie gerne Ruhe gehabt. Das ewige: "Mir noch eine!" oder "Die wurmige da!" oder "Bitt schön, die kleine da unten!" war ihr zuwider. So sagte sie dann gewöhnlich :

"Wer mir eine schöne Geschichte erzählt, kriegt drei Pflaumen!"

"Was willst für eine hören, Neasele, eine Geistergeschichte oder eine Räubergeschichte?" bot ich mich dann an.

Die Geistergeschichten waren ihr gewöhnlich lieber, aber einen schweren Zusatz machte sie noch:
"Lang muß sie sein, Bub, schön und wahr!"

Lang wurden sie auch, so lang, daß ich oft ermüdet innehielt und erklärte, ohne eine Zwetschke als Erquickung und Dreingabe könnte ich jetzt unmöglich weiter erzählen.

Ob sie schön waren? Dem Neasele gefielen sie, und was vielleicht noch wichtiger war, die Kinder waren damit zufrieden, sie vergaßen auf die Umgebung, folgten mir vom Nußbaum fort auf die Zauberschlösser und in die verwunschenen Wälder - und ich war Hahn bei den Zwetschkenkörben. Und das gerade wollte das Neasele, daß die andern nämlich weggingen, wenn auch nur in Gedanken.

Wahr? Ja, nun das waren sie eigentlich auch. Ich hatte die Geschichten entweder von meiner Mutter gehört oder von einer Tante oder einmal in einem Buche gelesen. Es mag sich so manches beim Erzählen verschoben haben, es wurde oft aus zwei oder drei Geschichten eine einzige, wenn eben eine recht lange gefordert worden war. Dann und wann glaubte ich auch etwas verschönern zu können, und schön sollte sie ja auch sein.

Und so wie ich damals unter dem Nußbaum das Dichten gelernt habe, so kann ich es noch heute, nicht besser, ja vielleicht nicht einmal so gut mehr. Denn es fehlen die Zwetschken, und wenn die da wären, sie hätten die Reizkraft nicht mehr wie dazumal. Es fehlen auch die Zuhörer, mindestens werde ich nie mehr so aufmerksame und so gläubige Lauscher vor mir haben wie die Vahrner Nußbaumgesellschaft.

Was ich hier in diesem Buche erzähle, habe ich in den Tiroler Sagensammlungen gelesen; in den "Mythen und Sagen Tirols" von Joh. Nep. Ritter von Alpenburg, in den "Sagen aus Tirol" von Ignaz v. Zingerle, in den "Volkssagen, Bräuchen und Meinungen aus Tirol" von Johann Adolf Heyl. "Laurins Rosengarten" ist seinem Hauptteile nach eine freie Inhaltsangabe des mittelhochdeutschen Spielmannsliedes.

Der Verlag wollte ein kleines, handliches Büchlein, das nur Sagen enthalte, die aus den Dolomiten stammen oder dort spielen. Was die Not erforderte, an den Sagen so viel zu ändern, daß sie der Form nach etwas Neues wurden - ob das auch ihre Tugend ist? Mögs der Leser nicht für ihren Fehler halten!

Daß manches daran dazugeträumt und -gefabelt ist, das wird mir niemand verübeln, der Einsicht hat in die Entstehungsweise der Volkssagen. Ich fordere übrigens das gleiche Recht, das den alten Weiblein und Männlein ohne weiteres zugestanden wird, denen man die Geschichten in den erwähnten Sammlungen nachgeschrieben hat. Habe ich doch nur begründet, was grundlos war, fortgesponnen, was mir abgezwickt vorlag, ausgemalt, was mir zu nüchtern erschienen. Manchen habe ich getauft, der früher ohne Namen herumgelaufen ist, manch anderem den Mund geöffnet, der früher nur gedeutet hat.

So möge dieses Büchlein nicht für mehr genommen werden als es ist, für eine Sammlung alter und neu zusammengereimter Sagen aus den Dolomiten.

Bozen, Ostern 1914.

Quelle: Laurins Rosengarten, Sagen aus den Dolomiten, Franz S. Weber, Bozen 1914, S. 1 - 4.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bernd Wagener, März 2005.