DIE "GROßE" VON KASTELRUTH

Die Kastelruther haben nicht nur den höchsten Kirchturm weitum - er ist 82 Meter hoch -, sondern auch, wie sie glauben, das schönste Geläute. Ihr besonderer Stolz aber war seit jeher ihre große Glocke im Turm. Diese "Große" lobten sie darum bei jeder passenden und auch weniger passenden Gelegenheit, und dies wiederum ärgerte die Nachbarn ringsum, welche deshalb die Kastelruther gern zu necken pflegten, indem sie sagten: "Die Kastelruther haben Glocken, so große, daß sie sie nicht derläuten, Kirchenfahnen, so große, daß sie sie nicht dertragen - und Schulden, so große, daß sie sie nicht derzahlen". Doch die Kastelruther wußten sich schon zu rächen für derlei Stichelreden und hießen prahlerisch die Völser Nachbarn die "Klieber" - Geizhälse die Rittner die "Tschergger" - Krummbeinigen - und die Lajener die "Schmirber", die Unsauberen und Fetthäutigen.

So ging das Necken hin und her. Einmal aber gingen die Lajener Burschen so weit, daß sie beschlossen, um diesen prahlsüchtigen Kastelruthern eins auszuwischen, ihnen die "Große", auf welche sie ja so stolz waren, "springen" zu machen. Eines Nachts stiegen sie heimlich in den Kastelruther Turm und banden eine starke Rebschnur derart fest um die Glocke, daß diese gleich zersprang und nur mehr erbärmlich "schepperte".

Nun mußten die Kastelruther ihre "Große" freilich umgießen lassen, was - laut Inschrift - 1763 der Brixner Glockengießer Josef Graßmayr besorgte. Und sie ließen der Glocke das selbstbewußte Sprüchlein eingießen:

"Bin des Feldes Schutz, leidigen Hagels Trutz und ist mein Hall lieb überall."

Dies letztere War wohl vor allem auf die neidischen Lajener gemünzt, die schon bald wieder die schweren Schläge der Kastelruther "Großen" hören mußten. Und auf diese neidische Tat der Nachbarn von der anderen Talseite war auch ein lateinischer Dreizeiler abgestimmt, den die Kastelruther ebenfalls ihrer neuen Glocke einsetzen ließen:

Aemulatio me primum produxit - Invidia ootennem idestruxit - Et charitas ad vitam reduxit.

Quelle: Atz, Karl und Schatz, P. Adelgott, Der deutsche Anteil des Bistums Trient, Bd. III, S. 252 f.