DER BEINERNE TISCH

In Völs lebte eine übermütige Bauerndirn, die Tochter eines reichen Völsers. Dieselbe wußte nicht, was sie um ihres Vaters Goldvögel alles begehren wollte, und der Vater, der auf seine schöne und reiche Tochter nicht wenig stolz war, tat ihr alles, was sie verlangte.

Die reichsten und angesehensten Freier stellten sich ein, und ein Gastgelage drängte das andere. Doch war ihr keiner reich und stolz genug. Zuletzt begehrte sie von ihrem Vater gar einen beinernen Tisch, und aus Elfenbein mußte er sein; sie wolle nur mehr an einem solchen Tisch essen. Der Tisch wurde angeschafft, und die Wirtschaft ging so flott weiter. Aber nicht mehr lang. Der Vater starb, und die Goldvögel flogen nach Ungnaden aus und kehrten nicht wieder. Und wie's so geht: selbst das größte Faß wird einmal leer und der Hof geriet in die Gant (Versteigerung). Die Dirn, ans Arbeiten nicht gewöhnt, mußte betteln gehen und wurde mit einer ekelhaften Krankheit an ihrem Leibe geschlagen.

Da begab es sich, daß sie einmal vor dem Haus eines reichen Bauern um eine warme Suppe bettelte; seit Wochen habe sie keinen Löffel voll mehr über die Lippen gebracht. Weil man sie aber nicht ins Haus lassen wollte, reichte ihr die Bäurin die Suppe heraus. Und sie setzte sich auf die Bank vor der Haustür und stellte die Schüssel auf ihre Knie. "Jetzt habe ich wohl meinen beinernen Tisch!" soll sie geseufzt haben, und die Tränen perlten ihr in die Suppe.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 418 f.