AUS DEM GRAB NACH WEIßENSTEIN

Beim Goldegger in Leifers diente eine brave Magd, welche die Dirn eines anderen Hofes zur Freundin hatte. Eines Tages verlobten sie sich beide nach Weißenstein, schoben aber die Wallfahrt auf und immer auf, bis endlich gar nichts mehr daraus wurde, denn die zweite Dirn schlenggelte von Leifers weit fort ins Wälsch. Sie schrieb wohl ein- oder das anderemal in einem Brief an die Goldeggerdirn von der verlobten Wallfahrt und versprach, bald einmal zu kommen, dann wollte sie mit ihr das Verlöbnis ausführen. Aber sie kam immer nicht.

Da einmal, es war in der Nacht vor einem Bauernfeiertag, wurde die Goldeggerdirn aus dem Schlaf geweckt. Jemand rief ihren Namen und, wer ihn rief, mußte vor der Haustür sein, das hörte sie genau. Sie sprang aus dem Bett und ans Fenster und erkannte im Vollmond ihre Freundin aus dem Wälsch, die nun heraufrief, sie solle sich flink anziehen und mit ihr nach Weißenstein gehen. Weil das der Goldeggerdirn recht war, dauerte es nicht lange, bis sie sich gerichtet hatte. Dann ging sie zur Haustür hinaus und grüßte die andere recht herzlich; diese aber hob alsbald zu beten an. So stiegen sie betend in der frischen, klaren Nacht den Berg hinan; die Goldeggerdirn stach der Wunder; sie hätte gern da oder dort ein wenig ausgeschnauft und die Freundin ausgefragt, aber diese betete und betete.

Oben auf der Höhe, wo der Weg aus dem Wald heraus auf die Wiesen führt, nicht weit von Weißenstein, traf sich's, daß gerade die Goldeggerdirn das G'sätzlein vorbetete, wie's der Brauch ist, abzuwechseln; da hörte sie auf einmal niemand mehr nachbeten. Sie kehrte sich um, die andere war weg; sie rief, keine Antwort; sie lief in den Wald zurück, vergeblich. Und noch wollte es immer nicht Tag werden. Als sie unten weggegangen war, hatte sie vergessen, auf die Uhr zu schauen; vielleicht war's da erst Mitternacht gewesen. Sie fing sich zu fürchten an, doch überwand sie sich und ging betend weiter.

Als sie zur Wallfahrtskirche kam, kniete ihre Freundin vor der gesperrten Kirchtür. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Sie kniete neben der andern nieder, gerade als es oben im Turm betzuläuten begann. Im Nu war die Freundin wieder fort, wie ein Nebelbild weggehaucht. Jetzt lief Grauen die Goldeggerdirn an. Die Kirchtür wurde aufgesperrt, sie trat vor das Gnadenbild und betete mit inniger Andacht für sich und die Freundin.

Als die heiligen Messen begannen, da erblickte sie auf einmal, vorne im Kirchstuhl kniend, wieder ihre Wallfahrtsgenossin. Sie sah wiederholt hin, sie war's, es trügte sie nicht. Wie nun die ersten Messen zu Ende waren, verschwand auch ihre Freundin wieder!

Die Goldeggerdirn holte sich darüber beim Geistlichen Rat, und dieser munterte sie auf, für ihre Freundin zu beten, weil sie gewiß verstorben sei, und ihr eine heilige Kommunion aufzuopfern, dann werde alles gut enden. Das tat die Dirn, und nach verrichteter Andacht trat sie den Rückweg an. Beim Bildstöckl am Waldrand, dort, wo die andere auf dem Heraufweg verschwunden war, stand die Freundin wieder, auf sie wartend und sie herzlich grüßend, fing aber gleich wieder zu beten an. So zogen sie betend den Berg hinab, unten aber verschwand die andere plötzlich und sie hatte sie das letztemal gesehen.

Daheim wartete schon die inzwischen eingetroffene Nachricht auf sie, daß ihre Freundin im Wälsch drinnen nach kurzer Krankheit, jedoch mit allen heiligen Sterbesakramenten versehen, gestern gestorben sei.

Der alte Goldegger in Leifers hat beide Dirnen gut gekannt, und die eine der beiden, die Goldeggerdirn nämlich, hat dies Ereignis unserem Gewährsmann selber erzählt.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 468