Das landfremde Männlein

Der Viller Bach ist nicht immer so unschuldig und zahm, wie er sich gewöhnlich zeigt. Manchmal wüthet und tobt er, daß die Neumarkter vor seinem Gewässer seine kleine Furcht haben. Als er vor vielen Jahren recht wild daherkam, gieng mit anderen Leuten auch mein Großvater hinaus, um dem Bergbache zu wehren. Wie er schon lange gearbeitet hatte, begab er sich mit seinen zwei Knechten in eine nahe Kapelle, um ein wenig auszuruhen. Kaum waren sie eine Viertelstunde dort, da kam auf einmal ein landfremdes, greisgraues Männchen daher und rief ihnen zu: "Lauft nur schnell auf und davon, denn gleich wird der Bach einbrechen und die Kapelle fortreißen." Mit diesen Worten lief es weg, die Kapelle war aber an einer solchen Stelle, daß man dort einen Einbruch gar nicht für möglich hielt. Deshalb blieben sie noch dort und wollten bald wieder zur Arbeit gehen. Doch sieh, das Männlein hatte Recht gehabt. Kaum war es fort, durchbrach der Wildbach die Dämme und wälzte sich auf die Kapelle. Mein Großvater rettete sich mit genauer Noth, die zwei Knechte aber giengen jämmerlich zu Grunde. (Bei Neumarkt.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 253, S. 154