WIE DER SALTNER DIE JUNGFRAU ERLÖST

In der Nähe von Kurtatsch stand des Nachts ein Weingartsaltner neben seiner Tonne und lauerte. Da kam ein Jäger, den er nicht kannte, auf ihn zu, und der Saltner bot ihm nach Landesbrauch eine scharfe Prise. Der Jäger schnupfte etwas aus der hingehaltenen Dose und sagte: "Um Mitternacht wird ein großer Wurm auf dich losschießen und sich um deinen Leib winden, um dir Speichel aus dem Munde zu saugen. Wenn ich dir gut zu Rate bin, tu dem Tier ja nichts zuleide, sonst würde es dir übel ergehen. Befolgst du aber meine Mahnung, dann sollst du überaus reich werden."

Saltner, Südtirol, © Wolfgang Morscher

Saltner-Turm in Kurtatsch, Südtirol
© Wolfgang Morscher, 5. April 2003

Der Saltner erwiderte: "Geh mir weg, Jäger, mit deiner Schlange; bin ich doch schon dreißig Jahre als Saltner hier und habe noch nie einen Wurm in dem Weinberg zu sehen bekommen. Du möchtest dir wohl auf die pfiffigste Art Trauben holen; aber wart, wenn ich dich erwische, du Höllenbratl!"

Der Jäger machte ein Paar grimmige Augen her und ging. Aber ganz geheuer kam dem Saltner das Ding doch nicht vor, und er war auf seiner Hut. Furcht jedoch beschlich ihn keine. Endlich, wie es vom Turm zwölfe schlägt, kroch ein gewaltiger Wurm heran und wand sich augenblicklich dem Saltner um den Leib. Darauf streckte das Tier seinen abscheulichen Kopf in die Höhe und wollte dem Saltner Speichel aus dem Munde saugen. Dieser aber verstand keinen Spaß, zog seinen Hirschfänger und schlitzte der Bestie den Bauch auf.

Wie erstaunte der Saltner, als aus dem Leib der Schlange, der rasselnd zur Erde stürzte, die schönste Jungfrau hervorstieg, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Sie schüttelte ihrem Erretter kräftig die Hand und dankte ihm mit den wärmsten Worten für seine kühne Tat, durch welche er sie erlöst hatte. Zeitlebens wolle sie es ihm gedenken. Darauf verschwand die Jungfrau, und dem Saltner wuchs das Geld in der Tasche, er wußte nicht, wie.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 495