DAS SCHWERT

Am Titschenbach hinter dem Wasserfall ist ein tiefer Schlund. Vor langer Zeit wollten einmal zwei Knaben in den Wald hinter dem Wasser gehen, um dort Reisig zu sammeln. Wie sie am Schlunde vorbeigingen, steckte am Rande desselben ein großes Schwert, dessen Griff von purem Golde war. Die Knaben traten hinzu, besahen die alte Waffe und zogen sie mit Mühe halb aus dem Boden. Dann aber ließen sie das Schwert so stehen und gingen weiter.

Als sie am folgenden Tage wieder in den Wald gingen und am Schlunde vorüberkamen, stieg plötzlich ein großer Mann in reicher, altmodischer Kleidung herauf, erwischte den ältern Knaben, der entfliehen wollte, und führte ihn in den finstern Schlund. Doch unten war es schöner und lichter als auf der Erde. Umgeben von Mauern und Gärten, stand dort ein prächtiges Schloß, in das der fremde Mann den staunenden Knaben führte. Da gab es blanke Marmorstiegen, duftende Blumen, stolze Bäume mit goldenen Früchten, und in den Zimmern, die von Gold und Silber strahlten, lagen unermeßliche Schätze.

Endlich traten sie in einen hohen Saal, in dessen Mitte ein großes Feuer flammte. Nun öffnete der majestätische Mann den Mund und sprach: "Hättest du das Schwert, das dir bestimmt war, herausgezogen, hätte dir niemand widerstehen können, und ich wäre erlöst. jetzt muß ich aber wieder ins Feuer zurück!" Flugs stürzte er sich in die Flammen, die hoch über ihn zusammenschlugen. Erschrocken eilte der Knabe aus dem Saale und lief durch die Zimmer in den Schloßhof. Als er aus diesem trat, befand er sich plötzlich am Rande des Schlundes. (Salurn.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 521, S. 294