Die feurige Schlange

Der große Waldhof liegt draußen auf dem Fuchsberg. Matthias Müller war der junge Waldnersohn; man nannte ihn gewöhnlich den Waldner-Hies. Wie sein Vater hatte auch er Vorliebe für das liebe Vieh. Als zweijähriger Bub half er gern seinem Vater bei der Stallarbeit. Am meisten bewunderte er den großen Geißbock mit den riesengroßen Hörnern. Bald wußte er alle Namen der Geißen und Schafe und versorgte sie alle fleißig.

Wieder einmal war der kleine Hies mit seinem Vater zur Abendzeit bei der Stallarbeit. Da kam es dem Hies vor, als dringe heller Lichtschein durch die Stallfenster herein. Vater und Sohn gingen vor den Stall hinaus, um nachzusehen. Eine feurige, große Schlange schwebte langsam durch Vinschgau hinauf. Wie versteinert standen beide da. Die Berggipfel waren vom Feuerscheine rot. Die Schlange kroch bis Latsch hinauf. Damals lebte in Latsch die Sagschneider-Mariandl, die wegen ihrer Faulheit nicht gerne in den Dienst genommen wurde. Auch sonst sagte man ihr nicht das Beste nach. Der unheimliche Drache hatte es auf diese Seele abgesehen.

Vor Tagen arbeitete Mariandl im Obstanger. Da schoß ein schwarzer Vogel auf sie herab und trug das Mädchen in den Lüften davon hinauf auf die Latscher Alm. Es waren gerade etliche Jäger droben, und diese fanden die Sagschneider-Mariandl in sterbendem Zustand. Sie trugen das arme Menschenkind in die Sennhütte und wollten ihr beistehen. Doch sie öffnete nicht mehr die Augen, nahm auch keinen Löffel voll Milch mehr ab. Noch in derselben Nacht ist sie gestorben.

Der Waldner-Hies ist später Bauer auf Saxalb geworden. Oft noch hat er im Freundeskreise sein Jugenderlebnis erzählt, und jedesmal zeichnete sich der Schrecken auf seinem Gesichte ab.

Quelle: Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Rudolf Baur, Bozen 1970, S. 110.