Der Grauner Pfarrer
Graun, Kirchturm, Reschensee © www.SAGEN.at

Der Kirchturm von Graun, erbaut 1357
Mahnmal an die Tragödie vom Reschen-Stausee 1950
© Wolfgang Morscher, 29. Oktober 2004

Man sagt, daß es Leute gebe, welche andere durch geistige Gewalt bewegen können, ihnen willenlos zu folgen. Der so Gebannte ist völlig machtlos gegen den Wunsch des anderen. Ein solcher Mann, der "folgen" machen konnte, war der Pfarrer von Graun. Dieser fuhr einmal von St. Valentin abends in sein Dorf zurück. Mitten in der Grauner Au, einer sehr einsamen Gegend, hielten zwei handfeste Strolche sein Gefährte an und verlangten drohend seine Barschaft. Der Pfarrer sagte: "Ja, alles, was ihr wünscht, sollt ihr haben." Er tat, als suchte er in seinem Mantel und machte ein eigentümliches Geräusch am Wagen, während dessen er ausstieg. Die Strolche horchten, was dies Tosen sei, und er legte unbemerkt beiden seine Hände auf die Schultern und sagte: "Nun seid so gut und geht noch mit mir nach Graun, daß ich euch etwas geben kann; hier fehlt es mir an Geld." - Die beiden waren dadurch in des Pfarrers Gewalt gebannt und mußten dem Wagen bis vor dem Widum folgen. Dort gab er jedem ein Brot und ließ sie gehen. Denn der "Zwingende" muß dem Gebannten ein Geschenk geben, sonst wird er des "Folgenden" nicht los. Die Strolche waren froh, so wohlfeil davongekommen zu sein, und liefen aus dem Dorfe. Im Besitze solchen Bannvermögens sind nicht nur manche Geistliche, sondern auch andere Leute können es haben. (Burgeis.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 816, S. 480