Der nächtliche Leichenzug
Von Naturns führt die Straße auf breiter Talsohle durch die
mit edlem Obst bebaute Gegend hin bis zur Toll. Auf der Höhe der
Töll endet der Vinschgau. Hart an der Straße von Naturns nach
Rabland breitete sich früher eine Erlenau, die sogenannte Naßau,
aus. Dort befand sich eines Nachts ein Metzger mit seinem Hund auf dem
Heimweg. Der Meister rückte tüchtig aus, die Nacht war sternenklar
und mild, große Stille herrschte ringsum, nur aus den Erlen tönte
der klagende Ruf eines Käuzchens. Als er schließlich zur Au
kam, zog ein langer Leichenzug vor ihm her. Der Metzger erschrak über
die ungewohnte Erscheinung und folgte, wie ein Leidtragender betend, dem
unheimlichen Leichenzug. Der sonst mutige Hund ließ den Schwanz
hängen und wich nicht von der Seite seines Herrn. Gott sei Dank zweigte
bald darauf ein Feldsteig auf der rechten Straßenseite ab. Der kluge
Metzgermeister nützte die günstige Gelegenheit, bekreuzigte
sich vorsichtshalber und schlug dann schnell den neuen Pfad ein. Wie er
sich noch einmal umsah, war der nächtliche Spuk von der Straße
verschwunden. Man vermutet, daß in dieser Gegend vor Zeiten eine
Mordtat verübt worden ist.
Quelle: Winkler Robert, Volkssagen aus dem Vinschgau. Bozen 1968. S. 340..