Der Riese im „Meerhafen"

Die Rotwand am Sonnenberg erhebt sich über einem verschollenen Riesenschloss, das mit einer ledernen Luftbrücke mit Schloss Juval verbunden war.

Die Anhöhe, auf der heute das Schloss Juval steht, war in grauer Vorzeit der Sitzplatz eines Riesen. Der Riese pflegte gute Nachbarschaft mit den Riesen auf der Sonnenbergseite. Sie plauderten gerne miteinander über das zwischen ihnen liegende Tal hinweg, durften sich dabei aber nur im Flüsterton unterhalten, denn ihre normale Stimme wäre als fürchterlicher Donner weitum zu hören gewesen. Besonders der Riese von Schlossegg musste sich beherrschen, denn er besaß Riesenkörperkräfte. Wenn er mit den Füßen stampfte, erzitterte Berg und Tal. Wenn er lachte, wurde das flache Land hügelig und das hügelige flach. Wenn er hustete, gingen „Lahnen" hernieder und wenn er nieste, waren es ganze Sturzbäche. Eine mächtige Steinkeule war seine Waffe, die er immer, Tag und Nacht, bei sich trug. Der Eingang zum Schnalstal war damals durch Felswände verriegelt, hinter denen sich ein See staute.

An einem heißen Sommertag erhob sich der Riese von seinem Sitz, um im darunterliegenden See zu baden. Die schwere Steinkeule aber hinderte ihn am Schwimmen. Ausnahmsweise entledigte er sich der Waffe und hängte sie an einem Felsen auf, der ins Wasser hineinragte. Aus diesem Felsen riss der Starke noch ein Stück heraus, dass seine Keule nun einem Riesennagel ähnlich sah. In unbändiger Freude und Lust ergab er sich dem Schwimmvergnügen und wurde immer ausgelassener. Dabei erzeugte er so große Wellen, dass sie den Riesennagel mit sich fortrissen... Darüber packte ihn die Wut, er brüllte und tobte, durchwählte den See, um seine Waffe zu finden, aber erfolglos. Er setzte sich an eine Ufermauer und stemmte seine Riesenfüße an den gegenüberliegenden Seerand. Mit einem einzigen heftigen Ruck drückte er, unter Aufwand aller Riesenkräfte, seine Knie durch. Mit schaudervollem Krach verschoben sich die Talwände und barsten auseinander. Der Eingang ins Schnalstal war geschaffen.

Die Kraftanstrengung brachte den Riesen derart ins Schwitzen, das große Schweißbäche die Felsen aushöhlten. Eine solche Rinne sieht man heute noch in Form eines Wasserfalles am Eingang an der linken Talseite. Darüber kann man den Riesennagel aus der Wand ragen sehen. Der See ergoss sich mit verheerenden Folgen in das Etschtal.

Im Jahre 1689 kam es zu einer großen Überschwemmungskatastrophe. Der Schnalsbach führte Hochwasser und füllte die Kellerräume des Steghofes mit Erd und Geröll auf. Durch die gewaltige Schotteranhäufung bei den Stegerwiesen staute sich der Schnalsbach in Richtung „Garns" derart, dass sich geradezu ein See bildete. Dieses einstige Staugebiet wurde im Volksmund lange noch "Meerhafen" genannt.

Quelle: Sage, Brauchtum und Geschichten in und um Naturns. Maria Gerstgrasser. Naturns 2003. S. 80