Die Saligen an der Rotwand

Ein altes und armes Mütterlein, dessen ganze Habe in ein paar Geißen und einem Äckerlein bestand, weidete einst seine Tiere an den besonnten winzigen Flecken der öden Felshänge des Naturnser Sonnenberges, nahe bei dem verschollenen Riesenschloß, das mit der Burg Juval durch eine lederne Luftbrücke verbunden war. Himmelan erhebt sich in der Gegend eine weithin sichtbare rötliche Felsenwand, die Rotwand genannt. Hier lag seit undenklichen Zeiten der saligen Fräulein Reich, die die Menschenkinder liebten, sie häufig anlockten und gut berieten. Ermattet von der prallen Sonnenhitze, sank die fleißige Hirtin auf einen heißen Felsblock nieder. Ein schwerer Seufzer entrang sich ihrer Brust, herrschte doch ein Mißjahr, das alle Feldfrüchte und Gräser vernichtet hatte. Die sonst wählerischen Ziegen mußten mit verdorrten Disteln und Dornen vorliebnehmen. Mit Schaudern dachte die alte Frau an die kommende Hungersnot für ihre Lieblinge und sich selbst. Dabei war sie allmählich sanft eingenickt vor Hunger und Schwäche. Plötzlich erwachte sie und erschrak mächtig, als sie sich von einer Schar schöner, hochgewachsener Frauen, mit langem, wallendem Blondhaar in weißen Kleidern umgeben sah. Es waren die saligen Fräulein. Eine von ihnen überreichte ihr anmutsvoll ein mit schwarzen Körnern angefülltes Körblein und ermunterte sie, ohne Furcht und Sorge zu sein und jene Körner sofort in ihrem Acker anzusäen. Aus dem Samen würde eine hundertfältige Frucht erwachsen, und solange diese ordentlich angebaut werde, würde es den Menschen niemals mehr an Nahrung fehlen. Sprach's und entschwebte mit ihren Gefährtinnen wie ein Sonnenstrahl. Das verwirrte Weiblein fand nicht einmal die Zeit, sich bei der lieblichen Frau zu bedanken. Es brachte das Zeggerle mit allen ihm unbekannten Körnern zu Tale und bestellte mit ihnen, die nicht gar werden wollten, nicht nur sein eigenes Äckerchen, sondern auch die Felder der Bauern im Dorf und Umgebung. Als dann die Pflänzlein kniehoch aufgeschossen waren, bildeten sie ein rosarotes Blütenmeer, aus dem summende und brummende Bienen geschäftig den köstlichen Honig sogen. Noch ehe die Herbststürme über die Felder und Fluren brausten, waren die leeren Getreide- und Mehltruhen mit der neuen, vortrefflichen Frucht, mit dem Schwarzplenten, gefüllt. Niemand hat die gütigen Wohltäterinnen jemals wieder gesehen; doch wenn die sturmgepeitschten Wolken oder Nebelfetzen an der Rotwand hängenbleiben und aufsteigend sich in der Richtung des rauhen Schnalser Hochtales in ein Nichts verflüchtigen, dann sagen die Leute: "Die Saugen tanzen heint."

Quelle: Winkler Robert, Volkssagen aus dem Vinschgau. Bozen 1968. S. 339 f.