Die „Stegerfrau"
Am Eingang des Schnalstales erhebt sich aus dem steinigen Gelände des Sonnenberges ein hoher Felsenturm. Dieses seltsame Steingebilde wird vom Volk „Stegerfrau" genannt. Wenn der scharfe Wind sie umbraust, hört man sie oft wimmern oder herzzerreißend schreien.

In unserem Zeitalter der Technik und der Sachlichkeit wird diese Klagestimme übertönt und vom Verkehrslärm im Tale erstickt.

Um das Entstehen dieser herausragenden Steinfigur rankt sich folgende Sage zur Warnung, in der das Böse, ja jedes frevelhafte Tun, bestraft wird und die uns respektvollen Umgang mit allem Lebendigen lehrt.
Auf dem Steghof am Eingang des Schnalstales lebte eine Bäuerin, die wegen ihres zwiespältigen Wesens zugleich geachtet und gefürchtet wurde. Treu, besorgt und verlässlich vollbrachte sie all ihre Arbeiten und Pflichten. Den sich ihr widersetzenden Menschen ging sie scheu aus dem Wege. Manchmal wurde sie vom plötzlichen Jähzorn gepackt, den sie dann an wehrlosen Tieren ausließ und die Tiere quälte. Danach irrte sie öfters, aus Scham und Reue getrieben, längere Zeit ziellos umher. Trotz Bemühens gelang es ihr nicht, ihre Wut zu bändigen, die oft aus Nichtigkeiten entstehen konnte. Niemand nahm Anstoß, aber jeder bedauerte sie.
Stegerfrau, Vinschgau, Südtirol, © Wolfgang Morscher

Stegerfrau, Vinschgau
© Wolfgang Morscher, 27. September 2003

Einmal wollte sie am Abend im Stall ihre Kuh nachmelken, an der sich vorher das Kälbchen gesättigt hatte. Die Kuh hielt die restliche Milch zurück. Darüber geriet die Bäuerin derart in Wut, dass sie das Kälbchen gewaltsam wegjagte und mit einem Stock unbarmherzig auf die Kuh einschlug. Am Morgen darauf versuchte sie es wieder mit dem Melken, aber erfolglos. Da geriet sie noch mehr in Wut und ließ sich neuerdings zu arger Tierquälerei hinreißen. Ohne Gewissensbisse nahm sie einen Ruckkorb, setzte ihr Kindchen hinein und begab sich hoch hinauf auf den Berg, wo in den schroffen Wänden die Ziegen weideten. Bei denen wollte sie sich nun ihre Milch holen. Ob der öfteren Misshandlungen waren die Tiere sehr scheu und verwildert geworden. Endlich gelang es ihr, eine Ziege herbei zu locken, konnte aber nur das Junge erhäschen. In unbeherrschtem Wutausbruch schleuderte sie das Tierchen wild fluchend in die Tiefe des Schnalsbaches. Verzweifelt stürzte das Muttertier dem armen Kitz nach. Nun schleuderte sie einen großen schweren Stein, der die Ziege über die Felsen riss und zerschmetterte.

Die außer sich geratene Bäuerin verspürte plötzlich einen brennenden Seelenschmerz, doch diesmal kam ihre Reue zu spät. Über der Rotwand hatte sich ein schreckliches Gewitter zusammengebraut und in Sekundenschnelle mit großer Wucht entladen. Ein Blitz folgt dem anderen, unaufhörlich rollte der Donner, schwere Hagelkörner prasselten auf die Steinplatten.

Und als dann das schreckliche Gewitter vorüber war, schien die Natur verwandelt zu sein. Eine seltsame Klarheit und Ruhe war zu bemerken. Zu Stein verwandelt war auch die Steghofbäuerin mit ihrem Kinde. Nun ragt sie als steiler Felsenturm in die Höhe und muss so lange auf Erlösung warten, so will es die Sage, bis kein Tier mehr auf der Welt von Menschen gequält wird.

Quelle: Sage, Brauchtum und Geschichten in und um Naturns. Maria Gerstgrasser. Naturns 2003. S. 66