Die Wildfahrhöhle am Sonnenberg

Den wuchtigen Hintergrund von Naturns bildet der steile, baumarme Naturnser Sonnenberg. Bevor dieser in schier unzugängliche Felsen übergeht, breiten sich auf den grünen Hängen eine Reihe schöner Bauernhöfe aus. Hoch über den Gehöften aber tritt ein gähnender Höhlenspalt zutage. Diese Vertiefung heißt zwar das Lorggenloch, obwohl auch die wilde Fahr dort aus und ein zog. Die wilde Fahr oder das wilde Gefährt zeigte sich in eigenartiger Gestalt, und zwar so, als ob zwei Gäule zusammengewachsen wären mit nur einem Kopf und einem Schweif und mit zwei Paar Beinen an jeder Seite. Fuhr es aus, so rauschte es wie getrocknete Felle, weil die Haut über dem dünnen Knochengerippe des unheimlichen fleischlosen Wesens raschelte. Wer aber dieses sonderbare Rauschen vernahm, dem rissen die Nervenfäden entzwei, und er bekam für sein Lebtag die Fraisen oder die Fallsucht. Das Lorggenloch wurde aber zudem von der Totenkopfspinne, einem schrecklichen Ungeheuer, bewohnt, das in seinen Ausmaßen dem Schädel eines neugeborenen Kindes gleichkam. Sie war so abscheulich anzusehen, daß jeder, der ihrer ansichtig wurde, alsbald vor Entsetzen starb oder den Verstand verlor.

Quelle: Winkler Robert, Volkssagen aus dem Vinschgau. Bozen 1968. S. 338 f.