DIE SALIGEN HELFEN DER ALTEN SALOME

Einen guten Büchsenschuß oberhalb Cumpatsch (bei Reschen), tief im Wald versteckt, stand ehedem ein kleines verlattertes Häuschen, im Geräut genannt, das nur von einem blutarmen hochbetagten Mütterchen bewohnt war. Die Alte fristete ihr kümmerliches Dasein mit dem Sammeln von Kräutern und Beeren, die sie an die Hausierer verkaufte, und wenn dieser magere Verdienst fehlte, so war sie genötigt, ihr Stücklein Brot von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus zu erbetteln.

Eines Tages erkrankte sie an einem hitzigen Fieber und war nicht mehr imstande, ihr armseliges Lager zu verlassen und ihrem Erwerbe nachzugehen. Von aller Welt verlassen, lag sie schon drei Tage so da, ohne Nahrung und menschliche Hilfe, und erwartete in frommer Ergebung den Tod.

Da pickte es auf einmal an das kleine Hüttenfenster und drei schneeweiße Tauben waren herangeflogen und schienen, ungeduldig mit den Flügeln schlagend, Einlaß zu heischen.

Mühsam, mit dem Aufgebote ihrer letzten Kräfte, erhob sich die Kranke von ihrem Lager und öffnete das Fenster. Kaum waren aber die Tauben in der Kammer, als sie sich plötzlich in drei weißgekleidete, engelschöne Jungfrauen verwandelten, die sich mit freundlicher Teilnahme ihrer annahmen, sie Tag und Nacht sorglich pflegten und mit kräftigen Brühen und heilsamen Kräutern labten, um ihre Kräfte zu stärken und das Fieber zu bannen. Als sich aber alle Liebesmühe fruchtlos erwies und das Mütterlein nach einigen Tagen sanft in ihren Armen entschlief, hielten sie bei ihr noch treue Totenwache und weinten um die Verstorbene, wie um eine Mutter.

Zur selben Stunde brachte ein vom Gebirge heimkehrender Holzknecht dem Seelsorger von Reschen einen Zettel, der ihm von unbekannten Händen zur gewissenhaften Bestellung übergeben worden war und worauf mit zierlicher Schrift zu lesen stand: "Die alte Salome im Geräut ist gestorben und bittet um ein christliches Begräbnis."

Als der Geistliche, der Aufforderung nachkommend, mit seiner Begleitung die Hütte betrat, lag das Mütterchen auf schneeweißem Linnen schön aufgebahrt da, das Sterbekreuzlein in den gefalteten Händen. Das Lager der Toten war mit frischen Blumen und Eibenzweigen schön geziert, und rechts, links und zu den Füßen brannten drei Wachskerzen.

Die mildtätigen Fräulein waren aber nicht mehr zu sehen.

Quelle: Meyer Martinus, Sagen-Kränzlein aus Tirol. 2. Auflage. Innsbruck 1884, S. 346 f.