DAS SCHUSTERLE

Es ereignete sich, daß wegen eines verlorengegangenen Grenzsteines sich ein heftiger Streit zwischen Glurns und Laatsch erhob. Als der Streit schon einige Jahre gedauert hatte und alle Mühe, den Grenzstein aufzufinden, vergebens war, behauptete plötzlich ein altes, armes Schusterle gegen sein Gewissen und die Wahrheit, daß der Grenzstein auf einer gewissen Anhöhe gestanden sei und daß die Glurnser immer dieses Bergstück benützt haben.

Er sagte, wie sein Vater immer zu ihm gesagt habe: "Geh nur dort hinauf und hole Holz, du darfst dich vor den Laatschern nicht fürchten, denn der Wald gehört noch uns." Er bot sich sogar an, zur Erhärtung seiner Aussage einen Eid abzulegen. Vor Gericht sagte er das nämliche aus, und als er aufgefordert wurde, seine Behauptung an Ort und Stelle eidlich zu bekräftigen, nahm er die Aufforderung an.

Der Tag, an dem er vor beiderseitigen Zeugen den Eid im Walde ablegen sollte, wurde bestimmt, es war ein Freitag. Da wurde das alte Schusterlein wohl von seinem Gewissen gemahnt, doch vergebens; es wurde in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag zweimal von einer geheimnisvollen Stimme in den Hof hinuntergerufen, und als es auf den dritten Ruf nicht wieder aufstehen wollte, aus dem Bette geworfen. Jedoch das Schusterle blieb ungerührt und kümmerte sich weder um Gott noch Teufel.

Am Freitag stieg er mit den Zeugen und dem Richter auf den Berg und sprach an der bestimmten Stelle keck und fest die Eidesformel nach. Aber kaum hatte er den Eid vollendet, als sich die Erde öffnete und das Schusterlein mit dem Rufe "Gott möge mir verzeihen" versank.

An dem Orte, wo er versank, ist jetzt noch eine sumpfige Vertiefung zu sehen. Auch ist es dort sehr unheimlich, denn der Meineidige muß im Bruggerwalde noch umherirren und wird von manchen Leuten noch gesehen. (Bei Glurns.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 376, S. 219