DIE STADT AM TARTSCHER BÜHEL

In der Nähe von Mals erhebt sich ein kahler Hügel, welcher vom Flecken Tartsch den Namen "Tartscher Bühel" erhalten hat. Auf diesem steht eine uralte Kirche, in deren Thurme zwei "heidnische" Glocken hängen, welche einen ganz eigenthümlichen Ton haben. Die der Sage kundigen Bewohner Vinstgaus [Vinschgaus] vernehmen aus ihren Klängen die Worte:

"Kimm bold, geah bold;
kimm bold, geah bold u.s.f. "


Der Tartscher Bühel mit dem romanischen Kirchlein St. Veit
© Berit Mrugalska, 2. März 2005

Diese Kirche war einstens der Tempel einer ehemals dort gestandenen heidnischen Stadt, deren Bewohner sehr reich waren. Infolge ihres Reichthums führten diese ein ausgelassenes, gotteslästerliches Leben. Aus Mutwillen wußten sie oft nicht mehr, welche neuen Streiche sie beginnen sollten.

Als einmal wieder Fastnacht herannahte, ersannen sie zu ihrer Ergötzung ein recht grausames Stückchen. Sie zogen nämlich einem lebendigen Ochsen die Haut ab, bestreuten diesen sodann über und über mit Salz und ließen so das gequälte Thier, welches vor brennenden Schmerzen fürchterlich brüllte, durch die Stadt laufen.

Die Unmenschen ergötzten sich an seinen Zuckungen und Klagetönen. Endlich blieb das arme Thier in der Mitte der Stadt stehen und brüllte gewaltig mit gegen Himmel gekehrten Augen, als ob es Rache auf seine Peiniger herabflehte. Und siehe: auf einmal zuckte es durch die Lüfte, die Stadt wankte und bebte, und im Nu war sie in den Abgrund versunken. Heutzutage sieht man noch quadratförmige Vertiefungen als Spuren der versunkenen Häuser, und wenn man mit dem Fuße darauf stampft, so hallt es hohl durch den Boden hin. Einmal soll ein Hirte nachgegraben haben, infolgedessen er eine dunkle Vertiefung entdeckte. Er ließ sich mit Hilfe einiger Bewohner von Tartsch an einem Seile hinunter und hatte auch eine Laterne bei sich. Bald befand er sich in einem ehemaligen Zimmer, wo um einen Tisch herum einige menschliche Gestalten saßen, welche bei der ersten Berührung gleich in Staub zerfielen. Der Hirte nahm dann einige Teller und Flaschen, welche auf dem Tische standen, und ließ sich wieder in die Höhe ziehen.

Später wagte es niemand mehr, sich hinunter zu lassen; auch nahm man sich nicht mehr die Mühe nachzugraben. Der Tempel jener Stadt bleibt aber als warnendes Zeugniß [Zeugnis] stehen. (Matsch. Kaspar Ruegg.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 629, S. 356