TODESMELDUNG

Der Pfarrer Raffeiner saß im Wohnzimmer seines Hauses am Schreibtisch. Es war über 10 Uhr nachts. Soeben wollte er seine Predigt für den folgenden Tag aufsetzen, da klopft es auf einmal laut an die Haustüre. Verwundert, daß noch jemand so spät Einlaß begehre, stand er auf und öffnete die Haustür. Draußen stand seine alte Mutter aus dem Obervinschgau. Bevor er sie noch zum Eintritt ins Pfarrhaus einladen konnte, sagte sie aber einige Worte des Abschieds und munterte ihn auf, ein braver Priester zu bleiben und viele Seelen zu retten, damit sie sich im Jenseits beide um so freudiger wiedersehen könnten. Kaum ausgeredet, war das Mütterlein wieder fort und verschwunden. Der Pfarrer schrieb sich tief erschüttert den Tag und die Stunde der Erscheinung ins Notizbuch.

Nicht lange darnach bekam er schon die Nachricht, daß seine Mutter gestorben sei. Genau am selben Tag und in derselben Stunde, als sie zu ihm gekommen war, hatte sie das Zeitliche gesegnet. Wenige Augenblicke vor ihrem Tode hatte sie den Wunsch geäußert, ihren geistlichen Sohn noch einmal zu sehen.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 465 f.