DIE MAULSER GRÄFIN

Bei Mauls stand einst die starke Veste Welfenstein, von der jetzt nur mehr wenige Mauern sichtbar sind. Als das mächtige Schloß noch mit seinen Türmen und Zinnen prangte, kam einmal an einem kalten Herbstabend ein alter Wanderer vor dasselbe. Lumpen bedeckten nur karg seine erstarrten Glieder, und müde und hungrig wankte er an seinem Stecken einher.

Als er Welfenstein sah, strengte er seine letzten Kräfte an und erstieg mit viel Mühe die Anhöhe. Speise und Herberge erhoffend, pochte er an das Schloßtor, das ihm endlich geöffnet wurde. Da erhielt er aber keine Labung, sondern der Torwart verwies ihn zur Gräfin. Der alte Mann schleppte sich nun durch die hohen Gänge zum Saale, wo die Gräfin im Kreise von Gästen an der Tafel saß. Hier beugte er sich vor der Schloßfrau und bat um Speise und Obdach. Als aber die Gräfin den alten Mann sah, ergrimmte sie und ließ ihn zur Tür hinausstoßen.

Der Greis verließ nun mit Tränen im Auge das ungastliche Schloß und sank bald, von Frost und Hunger überwältigt, nieder. Am folgenden Morgen fand man ihn tot vor dem Schlosse.

Bald wurde die stolze Gräfin krank und starb. Doch sie fand im Grabe keine Ruhe und mußte zur Sühne ihrer Sünden nachts umgehen. So schlummerte eines Abends ein müder Wanderer an dem Schloßhügel ein. Als es aber gegen Mitternacht ging, wurde er plötzlich durch einen großen Lärm geweckt. Er schlug die Augen auf und sah die einstige Burgfrau vor sich stehen. Es schauderte ihn, doch bald faßte er Mut und fragte sie, warum sie in später Nacht daherkomme. Darauf antwortete sie: "Ich muß wandern und weben, bis kein Stein auf dem andern mehr steht. Erst wenn aus dem Schutte eine Holerstaude wächst und blüht, werde ich zur Ruhe kommen." Mit diesen Worten war die schwarze Gräfin entschwunden. Wer sie erlöst, soll steinreich werden. (Sterzing.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 554, S. 314