Die Hand im Grabe.

Ein Bauer und eine Bäuerin lebten in Glück und Wohlstand schon manches Jahr, doch hatten sie kein Kind und das trübte ihren Frohsinn. Endlich schenkte ihnen Gott den heißersehnten Sprößling.

Es war ein hübsches Knäblein; sie nannten es Mezimer und übertrugen alle ihre Zärtlichkeit auf diesen Knaben.

Bald starb der Vater und die Mutter verwöhnte das Kind nur noch mehr; sie strafte es nie und sammelte nur Reichtümer, damit ihr Sohn es einst gut habe und nichts zu arbeiten brauche.

So wurde der Knabe verzogen und eigenwillig und ertrug es nicht, wenn ihm die Befriedigung einer Laune einmal versagt wurde. Als er herangewachsen war, trieb er sich nur in schlechter Gesellschaft herum und warf das Geld, das die Mutter erspart halte, mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Dabei wurde er gegen die Mutter, die an ihrem Sohne trotz seiner bösen Eigenschaften mit unverminderter Liebe hing, immer hartherziger und liebloser und schmähte sie sogar, wenn sie mit freundlichen Ratschlägen ihn auf den rechten Weg weisen wollte.

War es ein Wunder, daß es unter solchen Umständen mit der Wirtschaft immer mehr bergab ging und daß schließlich selbst das Haus verkauft werden mußte und die Mutter mit ihrem liederlichen Sohne in eine fremde Hütte ziehen mußte?

Einst hatte der Sohn, wie so häufig, wieder die Nacht in böser Gesellschaft durchschwärmt und kam betrunken nach Hause. Er fing sogleich mit der Mutter Zank an und verlangte in drohendem Tone von ihr Geld. Doch die Arme hatte keinen Heller mehr; sie hatte alles für ihren Sohn hergegeben. Da hob der Rohe gegen seine eigene Mutter die Hand auf, um sie zu schlagen.

Tränen stürzten aus den Augen der unglücklichen Mutter und voll Entsetzen verfluchte sie die Hand, die sich gegen sie erhoben hatte.

Bald darauf starb der junge Mann; die Ausschweifungen hatten seine Gesundheit untergraben, so daß er früh ins Grab sinken mußte.

Man bestattete ihn auf dem Friedhofe des Dorfes. Als aber am nächsten Tage ein Bauer an dem Grabe vorüberging, sah er aus dem frischen Grabhügel eine Hand herausragen. Voll Schrecken erzählte er dies im Dorfe und sogleich lief alles zusammen und eilte zum Friedhof. Alle Leute überzeugten sich, daß der Bauer wahr gesprochen: aus dem Grabhügel des Jünglings streckte sich eine Hand hervor.

Nun kam auch der würdige Geistliche des Ortes herbei, sprach seinen Segen über die Hand und ließ sie aufs neue einscharren. Doch schon am dritten Tage war die Hand wieder sichtbar. Da ging der Geistliche zur Mutter und sagte: "Gewiß hast du die Hand verflucht, weil die Erde sie nicht behalten will."

Die Mutter erzählte nun, wie der Sohn in sinnloser Wut seine Hand gegen sie erhoben und wie sie dann voll Verzweiflung ihm geflucht habe. - "Willst du ihm verzeihen?" fragte der Priester milde. - "Ich will es gerne," sagte die Mutter.

Nun ging sie mit den Insassen des Dorfes zum Grabe, bedeckte die Hand mit ihren Küssen und Tränen und nahm den Fluch zurück, den sie über den Sohn ausgesprochen hatte. In demselben Augenblicke verschwand die Sand und kehrte von selbst wieder ins Grab zurück.

Nach einiger Zeit aber wuchs aus dem Grabe eine Haselstaube heraus.

"Eine Haselstaude?" fragt mein kleiner Leser. Ja, eine Haselstaude, so erzählt die Sage des Volkes. "Und weshalb denn gerade eine Haselstaude?" Um daraus Gerten zu schneiden für kleine Kinder, die böse sind und ihren Eltern nicht folgen wollen. Denn hätten die Eltern unseres Knaben diesem nicht alles durchgehen lassen, sondern ihn gestraft, solange er klein war, so wäre wohl etwas Rechtes und Tüchtiges aus ihm geworden.

So erzählt das Märchen.

Quelle: Sagenbuch aus Österreich und Ungarn. Sagen un Volksmärchen aus den einzelnen Kronländern und aus den Ländern der Ungarischen Krone. Leo Smolle. Wien, Budapest, Stuttgart [1911]. S. 205 - 207