Eine schauerliche Begegnung

Es war Alois Büchel in Balzers, der vor langer Zeit erzählte, daß einmal ein Mann aus Balzers, namens Josef Fill, als er mitten in der Nacht vom Luziensteig her auf dem Heimweg war, eine schauerliche Begegnung hatte. Es war eine mondhelle Nacht, in der die Schatten lebendig wurden, die Bäche und Bäume lauter rauschten und die Vögel im Traume noch leise weiterpfiffen. Da schien es ihm, als er sinnend fürbaß schritt, es rufe ihn jemand bei seinem Namen: "Fill, Fill!" Er hielt inne im Schreiten und wollte sich vergewissern, ob er auch recht gehört und sich nicht getäuscht habe. Aber deutlicher drang aus einem Acker die Stimme herüber: " Fill, Fill!" Als der Mann, halb erschrocken, halb verwundert, gegen den Acker schaute, sah er dort im bleichen Licht des Mondes einen dunklen Mann stehen, der ihm winkte. Aber der Mann aus Balzers traute der Sache nicht recht. Mancher Bösewicht hatte schon nächtlicherweile einem unschuldigen, nichtsahnenden Wanderer etwas zuleid getan, und er wollte sich spornstreichs davonmachen.

Aber es war zu spät dazu; denn der fremde Mann trat an ihn heran, wies mit der Hand auf einen Markstein hin und forderte den zitternden Fill dringend auf, den Stein dorthin zu setzen, wo er ihn zu haben wünschte. Wie von einer unerklärlichen Macht getrieben, bückte sich Josef Fill, hob mit etwelcher Mühe den Stein aus der Erde und trug ihn an die von dem seltsamen Mann bezeichnete Stelle, wo er ihn wieder in den Boden einsetzte.

Kaum hatte er dies getan, geschah mit dem schwarzen Mann eine seltsame Verwandlung: er wurde schneeweiß, und ein verklärtes Lächeln trat in sein Gesicht. Da merkte der Mann aus Balzers, daß das niemand anders war als ein Bösewicht, der zu seinen Lebzeiten unrechterweise einen Markstein versetzt und nach dem Tode keine Ruhe gefunden hatte, bis die Untat wieder gesühnt war. Der Fremde aber reichte dem Josef Fill die Hand und wollte ihm für seine Erlösung danken. Der Balzner jedoch getraute sich in seiner entsetzlichen Angst nicht, dem Geiste die Hand zu geben, und er streckte ihm in seiner Not seinen dicken Stock entgegen, den der Geist drückte. Dann verschwand dieser lautlos wie ein Hauch, als wäre er nie dagewesen.

Es war eine schlimme Nacht für den armen Josef Fill gewesen; denn als er sich am andern Morgen nach kurzem, von wirren Träumen erfülltem Schlaf erhob, waren seine Haare schlohweiß geworden, in seinem Stecken aber, als Zeugnis der schauerlichen Begegnung, waren eingebrannt fünf Finger zu sehen, fünf schwarze, tiefe Kerben. Wehe, wenn er dem Geiste die Hand gegeben hätte!

Quelle: Dino Larese, Liechtensteiner Sagen, Basel 1970, S. 50