Der fromme Mann

Vor vielen, vielen Jahren lebte in der Einsamkeit des Guggerbodens bei Triesenberg ein unbekannter Mann, über den nur die Mär umging, daß er ungeheuer stark sein mußte; aber Genaueres wußte man nicht, da sich selten ein Mensch in die Wildnis hinauf wagte. Nur fiel es den Bewohnern von Triesen auf, daß der Mann nie in die Kirche kam, und sie munkelten über ihn und verklagten ihn beim Pfarrer. Der Pfarrer nickte bedächtig. Er fand selbst, man solle diese einsame Seele in bessere Hut nehmen, und er schickte deshalb einige besonders kräftige Männer in die Einöde hinauf mit dem Auftrag, den Mann herunterzubringen, damit er ihn zurechtweisen und ihm sein heidnisches Leben vorhalten könne.

Da die Männer dem unbekannten starken Mann nicht recht trauten, versahen sie sich mit dicken Stöcken, bevor sie hinaufstiegen. Aber da erlebten sie die erste Überraschung dieser denkwürdigen Begebenheit: Der fremde Mann war gar nicht böse oder unfreundlich. Im Gegenteil, er hieß sie freundlich und zutraulich willkommen, als hätte er die innigste Freude über den Besuch, den er in seine Stube führte. Aber es lief ihnen doch ein kleiner Schreck den Rücken hinunter, als sie sehen mußten, wie der Mann aus dem Keller eine riesige Brente voll Milch und einen unwahrscheinlich großen Käselaib, an dem zwei Männer mit Anstrengung zu tragen gehabt hätten, mühelos heraufbrachte und auf den Tisch stellte. Er bat seine Gäste, wacker zuzugreifen, und wünschte ihnen einen gesegneten Appetit. Erst jetzt fragte er sie nach ihrem Begehr. Nach etlichem Zaudern und Zögern rückten die Männer mit der Sprache heraus. Aber der fremde Mann begehrte nicht auf, sondern nickte freundlich und sagte sogar: " Gerne komme ich mit euch. Gehen wir nur! Aber ich muß doch auch einen Stecken haben, wenn ihr einen habt!"

Die Männer schämten sich ein wenig und hätten gerne ihre Stecken fortgeworfen. Aber da fuhr ihnen wieder ein gelinder Schreck in die Glieder: Der Mann riß einfach eine Tanne aus dem "Waldboden und rupfte die Äste weg, als wären es kleine Zweiglein oder Blätter, die ein Bub von einem Ast wegreißt, um eine saubere Rute zu haben. Die Männer mußten sich eingestehen, daß es mit der Mär von der ungeheuren Kraft dieses Mannes seine Richtigkeit hatte.

In Triesen begrüßte der Mann höflich den Pfarrer und besuchte mit ihm den Gottesdienst. Nachher setzten sie sich ins Pfarrhaus zum aufgetragenen Maisgericht und ließen es sich wohlschmecken. Der Pfarrer nahm sich nun vor, dem Mann ins Gewissen zu reden. Er fragte ihn deshalb, wie es ihm in der Kirche gefallen habe. "Es war schön", sagte der Mann, und dann beugte er sich über den Tisch, sah dem Pfarrer ins Gesicht und fragte ihn eindringlich, wieso jenes Büblein, das der Pfarrer in die Höhe gehalten habe, so grausam blute.

Da stockte dem Pfarrer die Rede, er schaute dem fremden Mann staunend ins Gesicht und sagte für sich: "Wahrhaftig, der ist näher bei Gott als ich und alle Leute von Triesen, er hat ja den lebendigen Heiland gesehen, wie er geblutet hat." Dann schwieg der Pfarrer, wie von einem Wunder berührt.

Als die Glocke zu Mittag läutete, betete der Pfarrer den englischen Gruß. Er machte den fremden Mann auf diesen Brauch aufmerksam und sagte ihm, er solle mit ihm beten. Der Mann aber sagte ernst: "Nein, nein, es läutet noch nicht zu Mittag; ich will dann schon beten, wenn es richtig läutet."

Der Pfarrer schwieg. Nach einer Weile stand der fremde Mann auf, faltete die Hände, und sagte: " Jetzt läutet es ", und betete still und andächtig. Der Pfarrer hob horchend den Kopf, aber er hörte kein Geläut, nur das Summen der Mittagsstille, und er schaute deshalb den Mann fragend und auch etwas mißtrauisch an.

Da zeigte der Mann auf seinen rechten Fuß und machte dabei dem Pfarrer ein Zeichen, er solle auf seinem Fuß stehen. Der Pfarrer gehorchte wie unter einem Zwang, und da geschah das Wunder, daß er wirklich Glocken läuten hörte, aber die klangen schöner als alle Glocken in Triesen und in Rom, die er schon einmal gehört hatte. Es schien ihm, dieses Geläute müsse aus dem Himmel kommen, so wundersam tönte es, und es bewegte seine Seele, daß er still und andächtig lauschte. Nach all diesen Geschehnissen sagte der Pfarrer sanft zu dem Mann aus der Einöde: "Geht, geht wieder heim, lebt wie bisher!" - und er segnete ihn. Darauf schritt der Mann wieder fürbaß, still und freundlich, wie er gekommen war. Der Pfarrer stand unter der Türe, schaute ihm lange nach und sagte leise vor sich hin: "Das ist ein frommer Mann."

Von nun an verstummte jedes böse Gerücht über den starken Mann in der Einöde, der so sichtbarlich unter Gottes Huld stand, und alle nannten mit Ehrfurcht seinen Namen. Sie holten sich oft auch guten Rat für ihre kleinen Sorgen, und es schien ihnen, die Einöde sei heller und freundlicher geworden.

Quelle: Dino Larese, Liechtensteiner Sagen, Basel 1970, S. 23