Der Gespensterschimmel

Als sich jemand nach dem Sinn des Kreuzbildes in der Lochgasse in Vaduz erkundigte, verwies man den Fragesteller auf die von Eugen Nipp aufgezeichnete Sage vom Lochgaß-Schimmel. Denn erst als das Kreuzbild aufgerichtet wurde, verschwand das unheimliche Gespensterroß, das nächtelang die Menschen durch sein Gewieher und Getrabe erschreckt und um den Schlaf gebracht hatte. Die Eingeweihten wußten nämlich wohl, daß der Schimmel niemand anders war als ein in die Fänge des Teufels geratener Bauer, der zu seinen Lebzeiten ein hartherziger, habgieriger, geiziger Mensch gewesen war, der sein Hab und Gut auf unredliche Weise zu mehren suchte, indem er stahl, was ihm zwischen die Finger geriet. Nicht einmal die Pferde waren vor ihm sicher, so erzählt die Sage, und er fand dafür ennet dem Rhein genug Abnehmer, die nicht nach der Herkunft der Pferde fragten.

Dieser sündige Trieb jagte ihn sogar an Weihnachten hinaus auf die dunklen Pfade; er wechselte über den Rhein hinüber, wo man ihn nicht so gut kannte, und hoffte in der heiligen Nacht, wenn die Menschen in der Kirche waren, gute Beute zu machen. Er täuschte sich auch nicht, denn als er an einer Kirche vorbeikam, aus der die Weihnachtslieder und Orgeltöne drangen, erspähte er einen prachtvollen Schimmel, der bei der Kirchentür an einem Haken angebunden war. Vielleicht, daß er einem Kirchgänger gehörte, vielleicht... Der diebische Bauer band den Schimmel los, setzte sich eiligst in den Sattel und nahm die Zügel in die Hand. Er schnalzte mit der Zunge, das Pferd wieherte und jagte dann mit dem Bauern über den Rhein zurück ins liechtensteinische Land. Aber er frohlockte nicht lange über den geglückten Diebstahl. Das Pferd sauste dahin, als wäre es vom Teufel getrieben. Eine unheimliche Angst bemächtigte sich des Reiters, der verzweifelt den Hals des Pferdes umklammert hielt, glaubte er doch jeden Augenblick herunterzustürzen. Er atmete erst erleichtert auf, als der Schimmel in die altvertrauten schlafenden Straßen von Vaduz einbog und in mächtigen Sprüngen die Lochgasse hinaufgaloppierte, wie wenn er seinen Weg kennte. Schon wollte sich der Dieb im Sattel wieder zurechtsetzen, da stand das Pferd plötzlich bockstill, so daß der Reiter in hohem Bogen über den Hals des Pferdes so unglücklich auf die Straße flog, daß er sich das Genick brach. Aber Entsetzliches mußten seine sterbenden Augen erblicken, als sich der Schimmel in einen hohnlachenden wiehernden Teufel verwandelte.

Es war zwar keiner dabei, der diese Verwandlung gesehen hätte, aber der Sage mußte man doch glauben. Denn seither mußte der Bauer als Schimmel die Lochgasse hinauf- und hinunterreiten, und erst das aufgestellte Kreuzbild verbannte das Gespensterpferd aus der Gasse und aus dem Gedächtnis der Leute.

Quelle: Dino Larese, Liechtensteiner Sagen, Basel 1970, S. 73