Die Sage vom Kehrus

Einmal kamen zwei Buben beim Kehrusloch auf der Alp Sücca vorbei. Da stach den einen die Neugierde, wie tief wohl das Loch sei, und er begann Steine hinunterzuwerfen. Plötzlich schrie er auf und eilte bleich vor Angst seinem Kameraden nach, dem er zitternd berichtete, aus dem Loch sei ein Mann herausgekommen, ein wunderlicher Mann mit einem breiten Gesicht, einem roten Brusttuch und brauner Lederkappe. Nun hätte der Bub gleich zum Lehrer Risch in Triesenberg gehen können, und der hätte ihm erzählt, daß dieser wunderliche Mann niemand anders gewesen sei als der arme Sücca-Kehrus, ein armer, in jenes Loch verbannter Geist, der für seine Unredlichkeit, die er in seinem Erdenleben gezeigt hatte, hart büßen mußte.

Denn früher war der Kehrus ein wohlbestallter Senn auf der Alp Sücca gewesen, wo er das fürstliche Gut treu und ehrlich verwalten sollte. Jedes Frühjahr schwur er im Namen aller Heiligen, daß er sein Amt redlich und zur Zufriedenheit des fürstlichen Hauses ausüben werde. Aber ach, er wollte schneller zu Geld und Reichtum kommen, als dies auf ehrlichem Wege möglich war. Er mißachtete seine Schwüre und Versprechungen und verkaufte unter der Hand Butter und Käse zu niedrigeren Preisen an die Bauern und Händler, die sogar aus der Schweiz und dem Vorarlberg herüberkamen; denn zu so niedrigen Preisen erhielten sie nirgends solche feine, gute Ware. Den Erlös aber behielt der Kehrus für sich; und so häufte sich in kurzer Zeit sein Geld, und alle trauten und glaubten seinem breiten Gesicht. Je reicher er wurde, desto höflicher grüßten ihn die Leute, und niemand kam ihm, wie man hierzulande sagt, auf den Sprung. Mit dem vielen Geld kaufte er sich mehrere Güter auf der Gatnaalp. So wurde er ein reicher, wohlangesehender Mann, der alles hatte, was er wünschte in seinem Leben.

Er war schon hochbetagt, als er zum Sterben kam. Aber nun geschah das Grausige. Man munkelte überall herum, der Kehrus habe im alten Friedhof von Triesen, wo man ihn mit allen Ehren begraben hatte, keine Ruhe gefunden; er geistere auf der Sücca-Alp herum, erschrecke nichtsahnende Wanderer und jage die Tiere in kopflose Flucht hinein. Da ließ man zwei Pater kommen, die den Kehrus an einen abgelegenen, unwirtlichen Ort bannen sollten. Sie wollten das auch tun, aber da er sie mit herzbewegender Stimme bat, ihn doch an einen Ort zu schicken, wo er auf seine ehemaligen Güter blicken könnte, erbarmten sich die Pater der armen Seele und gewährten ihr den Wunsch. Mit beschwörender Stimme bannten sie nun den Kehrus in jenes Loch auf der Höhe Schindelries über der Alp Sücca, das heute noch Kehrus-Loch genannt wird. Den Patern aber gestand er in seiner Not: "Nicht durch den Diebstahl von Käse und Butter bin ich verdammt worden, sondern weil ich den Schwur nicht gehalten habe."

Da trieb er weiter sein Unwesen, und mancher berichtete, er sei dem Kehrus in der Alphütte auf Sücca, wenn sie nicht benützt wurde, begegnet und habe mit eigenen Augen sein breites Gesicht, das rote Brusttuch und die braune Lederkappe gesehen.

Da waren einmal einige Schulmädchen, die auf dem Wege nach Steg über die Alp kamen. Sie hofften, ein paar der schönen, von den Sennen geschnitzten Alpstöcke mitnehmen zu können. Als sie zur Hütte traten, öffnete sich plötzlich der Laden, und der Kehrus schaute heraus. Die Mädchen liefen kreischend davon, verfolgt vom Gelächter des Geistes.

Und der Geißhirt erzählte, daß ihm einmal plötzlich alle Geißen davongelaufen seien, als wären Wölfe hinter ihnen her, und er habe sie nur mit Mühe wieder einfangen können. Als er dann zur Alp zurückkehrte, erblickte er den Kehrus, der zur Hütte herausschaute, und jetzt begriff er gut, warum seine Geißen dermaßen wild davongejagt waren.

Das Schlimmste aber erfuhr der Hirt, der sich herbeiließ, die Geiß einer armen Witwe, die in das Kehrus-Loch gefallen war, wieder herauszuholen. Er ließ sich an einem Seil in das tiefe Loch hinunter, aus dem das ängstliche Meckern der Ziege heraufdrang. Aber wie schnell schoß er wieder aus dem Loch empor! Denn, so erzählte er kreidebleich, es gab da unten plötzlich einen hellen Schein, und da sah er auf einem Stein eine Hand liegen, die drei Finger zum Schwur emporhielt, eine tote, schwörende Hand.

So wurden die Begegnungen mit dem Kehrus immer zu eindringlichen Mahnungen, daß man, wenn auch nicht im diesseitigen Leben, so doch nach dem Tode, seiner Strafe nicht entgehen kann und bitter büßen muß für alle Schandtaten, die man im Leben auf sein Gewissen geladen hat.

Quelle: Dino Larese, Liechtensteiner Sagen, Basel 1970, S. 14