Die Sage vom armen Mädchen

Das ist eine traurige Geschichte aus der dunklen Hexenzeit, die uns Richard Beitl aufgeschrieben hat. Es war einmal drüben im Vorarlbergischen ein armes Waisenkind, das auf einer Alp kleine Dienste verrichtete und dafür ein bescheidenes Essen bekam. Als das Kind einmal mit Butter von der Alp herunterkam, sprang ihm winselnd ein Hund entgegen. Es wollte den Hund verscheuchen, aber er heulte aufgeregt, sprang hin und her, als wollte er ein Zeichen geben, und ließ sich durch nichts vertreiben. Als das Mädchen Anstalten machte weiterzugehen, trat ihm der Hund in den Weg, wie um dem Mädchen die Straße zu versperren, und es schien, als jammerte und klagte er wie ein verzweifelter Mensch. Das Mädchen drehte sich um, da eilte der Hund voraus, als wollte er ihm den Weg zeigen; das Mädchen, nun doch neugierig geworden, folgte ihm durch niederes Gestrüpp, über Steine und Felsen, dann traten sie in einen kleinen Wald.

Da verstand das Mädchen den klugen Hund, denn es fand im Moos einen Mann, der arg blutete und vor Schmerzen tief seufzte und klagte. Er war während der Jagd von den Felsen hinuntergestürzt, und wenn nicht sein Hund Hilfe geholt hätte, wäre er wohl in der Einöde umgekommen. Das Mädchen nahm die Schürze, riß sie in Streifen, strich von seiner Butter darauf und verband dem Mann die blutenden Wunden. Dann eilte es zur Alp zurück, wo es alles den Sennen erzählte, die eilends herbeikamen, um den Verunglückten ins Tal hinunterzutragen.

Bevor sie aber mit der Bahre aufbrachen, rief der Verunglückte: "Wartet!" Dann wandte er sich an das Mädchen und sagte: "Du hast mir das Leben gerettet. Nimm diesen Goldring als Zeichen meines Dankes. Und wenn du einmal in eine Not kommst, dann schicke mir diesen Ring, ich werde dir sofort helfen. Ich bin der Vogt von Feldkirch!" Da neigten die Sennen ehrfürchtig ihre Köpfe; denn der Vogt von Feldkirch, der auf der Schattenburg wohnte, galt als einer der mächtigsten Männer im Land. Das Mädchen nahm den Ring tief errötend entgegen, dachte aber in seiner Unschuld kaum daran, daß es jemals von diesem Anerbieten Gebrauch machen müßte.

Wie man sich täuscht! Denn nach einigen Jahren trat jenes Ereignis ein, das sie in eine solch verzweifelte Lage brachte, aus der nur noch der Goldring Rettung bringen konnte. Sie hatte bei einem Bauern in Triesen eine Stelle als Magd angenommen. Schon am ersten Tag nahte das Verhängnis: als sie das Haus betrat, erkrankte das einzige Kind der Bauern und starb nach wenigen Tagen. In den Dunkelheiten der damaligen Zeit fand der arme Bauer keinen Ausweg aus dem Schmerz; finstere Gedanken hakten sich in seinem Kopfe fest, und er glaubte zuletzt nichts anderes als das Mädchen aus dem Vorarlbergischen sei eine Hexe und habe sein Kind ins Unglück gebracht. Er verklagte es auf dem Gericht in Vaduz, wo man solche Geschichten schnell zu glauben schien; denn das arme Mädchen wurde ergriffen und ins Gefängnis gebracht. Wohl weinte sie und beschwor ihre Unschuld, aber mit Foltern und andern Quälereien hatten die Richter das Mädchen bald so weit, daß es als Hexe zum Feuertod verurteilt wurde.

In dieser Not erinnerte sich das Mädchen an das Versprechen des Vogtes von Feldkirch, und es flehte jeden an, den Goldring auf die Schattenburg zu tragen, aber keiner hatte Mitleid mit der vermeintlichen Hexe. Schon wurde der Holzstoß errichtet, und das Mädchen schrie in seiner Verlorenheit, da wurde es dem Bauern irgendwie merkwürdig zumute, als plage ihn heimlich das schlechte Gewissen; es war wie eine Stimme, die heftig in ihm zu sprechen und zu mahnen schien. Am Vorabend der Urteilsvollstreckung begab sich der Bauer, wie von unsichtbarer Gewalt getrieben, in das Gefängnis des Mädchens. Er erbat sich den Goldring und sagte, er gebe sich alle Mühe und wolle den Ring nach Feldkirch bringen.

Er setzte sich auf sein Pferd und jagte davon. Als er in der Nacht in Feldkirch ankam, konnte er den Vogt nicht sprechen; denn dieser lag in einem weintiefen Schlaf, hatte er doch den Tag mit lauten Festereien durchgebracht. Der Bauer mochte nun in seiner Herzensangst drängen und bitten und flehen, es nützte alles nichts. Erst am Morgen konnte er dem gähnenden, schlaftrunkenen Vogt den Goldring vorweisen und von der Not des Mädchens sprechen. Der Vogt wurde jetzt hellwach, setzte sich eilends auf sein Pferd, und der Bauer jagte ihm nach. Aber als sie endlich nach Vaduz kamen, war das Urteil schon vollstreckt, nur eine dünne Rauchwolke über den Dächern kündete von dem dunklen Wahn.

Seither, so erzählt die Sage, fand der Bauer keine innere Ruhe mehr. Er fühlte sich schuldig am Tode des Mädchens und auch nach seinem Tode fand er keinen Frieden im Grabe. Die nächtlichen Wanderer berichten, wie er jede Nacht auf seinem Geisterpferde von Schaan nach Feldkirch reite. Man sehe seinen Mantel wie einen schwarzen Flügel wehen, und der Hufschlag des Pferdes dringe durch die Nacht wie das unruhige Schlagen eines geplagten Herzens.

Quelle: Dino Larese, Liechtensteiner Sagen, Basel 1970, S. 69