Die lebendige Puppe

Können die Dinge lebendig werden? Ja, es gibt oft merkwürdige Geschehnisse auf dieser Welt, und man muß deshalb in mancher Hinsicht vorsichtig sein. Aber daran dachten die übermütigen Alpknechte auf der Alp Guschg am Schönberg in jenem guten, warmen Sommer, den sie nie mehr vergessen werden, gar nicht; denn die Arbeit ging ihnen leicht von der Hand, alles gedieh prächtig, so daß sie oft viel Zeit übrig hatten. Sie saßen dann vor ihrer Alphütte und schauten gelangweilt dem weidenden Vieh zu oder trieben Spaße und Schabernack.

Dabei kamen sie auf den abwegigen Gedanken, aus alten herumliegenden Lumpen eine Puppe zu machen, mit der sie nun viel Kurzweil hatten. Sie setzten sie an den Tisch und führten mit ihr dumme Gespräche. Sie nahmen sie plötzlich in den Arm, trugen sie wie ein Kind umher und taten, als wiegten sie sie in den Schlaf, um sie dann unversehens in eine Ecke zu werfen. Oder sie versuchten, ihr Mus und Milch in den Mund zu löffeln, und verschmierten dabei das ungestalte Gesicht der Puppe.

" Red auch einmal, du Tolpatsch!" fuhren sie die Puppe an, und da sie begreiflicherweise nicht antwortete, schlugen sie sie mit Händen und Füßen und lachten sich dabei halbtot.

Aber dann geschah das Unfaßliche und Grauenerregende, daß eines Tages die Puppe wirklich sprach.

Der Herbst war gekommen, die Alpknechte trieben das Vieh zusammen und richteten sich für die Talfahrt.

Am letzten Tage saßen sie noch einmal beim Essen zusammen und hatten dabei auch die Puppe an den Tisch gesetzt, mit der sie wieder unanständige Spaße trieben. Als sie das Mahl beendet hatten und gerade aufstehen wollten, sanken sie wie vom Schlage getroffen auf ihre Sitze zurück; denn die Augen der Puppe begannen plötzlich seltsam und furchtbar zu glitzern. Sie schaute einen um den andern böse und durchdringend an, dann öffnete sie ihren Mund und hohl sprach ihre Stimme: "Ihr könnt alle heimgehen, aber der Senn da", und sie hob den Arm und zeigte auf den fahlen Senn, "der muß bei mir bleiben."

Wie von einer magischen Kraft gehalten, blieb der Senn sitzen, während die Alpknechte schlotternd und bebend die Herde und ihre Geräte sammelten und wie gejagt die Alp verließen. Als sie ein Stück weiter unten waren und sich etwas gefaßt hatten, blickten sie noch einmal scheu zurück, und was sie da sahen, trieb ihnen einen kalten Schauer den Rücken hinunter: Auf dem Dache der Sennhütte war die Haut des Sennen wie zum Trocknen ausgespannt, und daneben saß die lebendig gewordene Puppe, verwarf wild die Arme und lachte, lachte höhnisch und fürchterlich...

Diese Sage hat Lehrer Frömmelt in Triesenberg erzählt, und wer genau zuhört, mag eine Lehre daraus ziehen.

Quelle: Dino Larese, Liechtensteiner Sagen, Basel 1970, S. 29