Von den Brennern und Tobelhockern

Es waren schlimme Geschichten, die man sich von den Hexen erzählte, aber viel schlimmer und gefährlicher waren jene bösartigen Menschen, die glaubten, sie wären besser als alle andern: die Scheinheiligen; sie meinten, sie hätten das Himmelreich auf Erden verdient, wenn sie. ihnen mißliebige Personen verunglimpften, ihnen alles Böse andichteten und sie als Hexen und Zauberer verschrien, bei der Obrigkeit anzeigten und sich an ihren Folterqualen und ihrem schrecklichen Sterben weideten. Diese hinterhältigen Angeber, im Liechtensteinischen nannte man sie "Brenner", wie Peter Kaiser berichtet, traten eines Tages in die Stube eines Mannes mit Namen Schädler am Triesnerberg, der wohl wußte, welche Stunde jetzt für ihn geschlagen hatte; denn sie hatten ihn, trotz aller Beteuerungen, als Hexenmeister angezeigt und seine Verhaftung erwirkt. Als sie ihn fortführen wollten, reichte er zum Abschied seinem Söhnchen noch ein Stück Brot, das der Kleine aber nicht nehmen wollte. Der Vater beugte sich, wie die Sage erzählt, mit doppelter Zärtlichkeit zu seinem Sohne nieder und sagte: "Nimm dieses Himmelsbrot und iß es zu meinem Gedenken, und alle die Jahre, die ich noch leben könnte, wenn nicht diese ungeheure Ungerechtigkeit sie mir von meinem Leben nehmen würde, werden zu deinen dir gegebenen Lebensjahren zugezählt und dein Leben verlängern."

Da nahm der kleine Bub das Brot und aß es bis zum letzten Krümchen. Die Weissagung des Vaters aber erfüllte sich, denn dem Sohn wurde ein langes Leben zuteil, er starb erst im hohen Alter von hundertundein Jahren. Er war es, der als Greis nachts am Herdfeuer einer neuen Generation von diesen schauerlichen Hexenprozessen erzählte und wie viel es gebraucht habe an Einsicht und Aufklärung, bis sie im Liechtensteinischen ein Ende genommen habe.

Die Brenner, die so viel Unglück über rechtschaffene Familien gebracht hatten, gruben sich selber ihr Grab, als sie sich in ihrem Wahn dazu verstiegen, den Pfarrer von Triesen als Hexenmeister zu verleumden. Er wisse es noch ganz genau, berichtete der Greis, wie die Brenner eines Abends in das Pfarrhaus traten, um den Pfarrer für den Prozeß abzuholen. Aber sie hatten nicht mit seiner Schlauheit und Menschenkenntnis gerechnet ; denn er faßte sich nach dem ersten Schrecken sehr schnell, tat freundlich, als empfinge er noble Gäste, und bat die tugendhaften Wächter, Platz zu nehmen und ein Glas Wein zu trinken. Im Keller, wo er das Getränk holte, mischte er ein starkwirkendes Schlafpulver in den Wein, den er dann den Gästen kredenzte. Es dauerte nicht lange, da begann das Schlafpulver zu wirken, und die Brenner sanken in einen tiefen Schlaf.

Der Pfarrer tat nun etwas, was eines Pfarrers nicht gerade würdig ist, aber in der höchsten Not tut jeder sein Bestes; er griff nämlich in die Rocktasche des Anführers und fand dort richtig das Vermutete: eine Liste mit den Namen aller als Hexen oder Hexenmeister verdächtigten Menschen. Sein eigener Name stand zuoberst auf der Liste. Mit Ingrimm blickte er auf die schlafenden Angeber, dann schickte er seinen Knecht und seine Köchin ins Dorf zu allen jenen Menschen, deren Namen er auf der Liste gelesen hatte. Sie kamen in höchster Eile, hielten kurzen Rat und fesselten dann die Brenner, die, als sie erwachten, erstaunt und erschrocken, kaum eines Wortes mächtig, von den versammelten Menschen ihre Schandtaten vernehmen mußten. Die Obrigkeit nahm sie in Gewahrsam und führte sie ihrer gerechten Strafe zu.

Aber, so berichtet Peter Kaiser weiter, ihre Sünden waren so unfaßbar schwer, daß sie nicht einmal der Teufel in der Hölle haben wollte. Da wurden sie in ein schwarzes Tobel bei der Alp Lawena gebannt, wo sie wie Leichen an steinernen Tischen sitzen, starr und stumm. Sie können kein Wort und keinen Seufzer mehr hervorbringen, denn sie haben in ihrem irdischen Leben zu viel gelogen. So weit kann uns die hoffärtige Bravheit bringen. Dort sitzen sie in ewiger Verdammnis bis zum Jüngsten Gericht. Man nennt sie die "Tobelhocker", ein Name, der die gleiche Bedeutung wie Angeber, Lügenmaul, Scheinheiliger hat, eine Mahnung für uns alle, nichts Nachteiliges über den Mitmenschen zu sagen, damit wir nicht zu Tobelhockern werden.

Quelle: Dino Larese, Liechtensteiner Sagen, Basel 1970, S. 75