Der Untergang von Trisona

Das schöne Dorf Triesen in Liechtenstein war in früherer Zeit eine große, prächtige Stadt und hieß Trisona. Reichtum und Sattheit verdarben aber ihre Bewohner, sie vergaßen das Gute und Edle und das Wohltun, verspotteten Gottes Wort und lebten in der Sünde. Als ihr wüstes Leben zum Himmel schrie, schickte Gott seinen Engel, der mit feurigem Schwerte warnend über die Stadt flog und mahnend rief: " Wer dem Untergang entgehen will, fliehe nach Sant Amerta!"

Aber ach, die Bürger der Stadt verharrten in der Sünde, hörten die Stimme des Engels nicht und sahen nicht das warnende Zeichen; nur eine einzige gottesfürchtige Frau unter den gottlosen Menschen vernahm die Stimme und gehorchte ihr.

Sie hatte zwei kleine Kinder, die sie in der Eile nicht mitnehmen konnte; aber sie gab ihnen gedörrte Apfelschnitze, damit sie in der Stube sich verweilten in der Stunde der Gefahr. Sie verschloß Türen und Fenster und schaute noch einmal in die Stube, wo die Kleinen nichtsahnend und vergnügt am Tische saßen, von den Schnitzen naschten und mit ihnen spielten. Dann eilte die Frau nach Sant Amerta in das Kirchlein, kniete nieder und betete aus tiefster Sorge um das Wohl ihrer Heimat.

Das wurde sie aus ihrer Versenkung aufgeschreckt durch ein furchtbares Getöse und Rauschen. Es war, als ginge die Welt unter. Es wurde dunkel, Vögel schrieen, Bäume krachten - dann eine unheimliche Stille. Die Frau stürzte vor die Kirchentür und sah mit Entsetzen eine riesige Lawine, die über die Stadt Trisona weggerast war. Die Frau schlug verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen, dann kniete sie wieder vor dem Allerheiligsten und betete und weinte. Die Sorge und Angst um ihre Kinder trieben sie nach Hause zurück. O grauenvoller Anblick! Die ganze Stadt lag verschüttet unter Erde und Gestein, keine Menschenstimme war mehr zu hören, keine Fliege summte um ihr Haupt, tote Einsamkeit überall.

Aber o Wunder, ihr Haus, als einziges, stand unangetastet inmitten der Trümmer, als wäre es von einer himmlischen Hand behütet worden. Und in der Stube saßen immer noch ihre Kinder stillvergnügt am Tisch mit den Apfelschnitzen, als hätten sie nichts bemerkt von der schrecklichen Katastrophe, die über die Stadt hereingebrochen war. Die Mutter riß die Kinder an ihre Brust, als müßte sie sie jetzt noch schützen, dann sank sie nieder und dankte Gott für seine Gnade.

Die Stadt aber war verschwunden, und nichts erinnert mehr an ihre einstige Schönheit und Größe als diese stille Sage.

Quelle: Dino Larese, Liechtensteiner Sagen, Basel 1970, S. 37