Die Sage vom Liechtenstein.

"Vor vielen Jahren lebte ein schlichter und biederer Landmann. Er war reich mit irdischen Gütern gesegnet, seinem Kaiser in treuer Liebe ergeben und stand im Rufe grosser Frömmigkeit.

Eines Tages gieng er auf seinem Felde hinter dem Pfluge her. Das Rösslein schritt munter voraus und der Pflug hatte schon Furche an Furche gezogen, als mit einemmale die Pflugschar auf ein Hindernis stiess und das Rösslein stehen bleiben musste.

Flugs hob da der Landmann den Pflug aus der Furche und gieng hin, nach der Ursache der Störung zu sehen. Forschend liess er sein Blicke längs der Furche hingleiten.

Da sah er in der Tiefe der Fuche ein Stück von einem Dinge aus der Erde hervorragen, das im hellen Lichte der Sonne in allen Farben des Regenbogen erglänzte. Und er gieng hin, sich einen Spaten zu holen, um das Ding herauszugraben.

Behutsam hob er ringsherum das Erdreich aus, und siehe da, kam ein schongeformter, wasserheller Stein zutage, der das helle Sonnenlicht in tausenden Strahlen mit seltener Farbenpracht zurückstrahlte.

Verwundert betrachtete der Landmann den kostbaren Stein. Er hob ihn auf und hielt ihn vor sich auf den Händen, sein Erstaunen ob dieser Farbenpracht fand keine Grenzen. In seinem ganzen Leben hatte er ein so herrliches Stück nicht gesehen, geschweige denn auf den Händen getragen.

Nachdem er den Stein genugsam bewundert, wickelte er ihn in ein Tuch und verwahrte das Ganze gar wohl unter seinem Wams.

Hierauf fieng er wieder an, sein Feld zu pflügen, denn am Abend musste er seine Arbeit zu Ende bringen.

Den nächsten Tag schon früh am Morgen machte er sich auf den Weg nach dem nahen Schlosse des Grafen dieses Gaues. Dort angekommen, verlangte er nach dem Schlossherrn. Er wurde demselben vorgeführt und zeigte ihm den wundervollen Stein.

Der Graf war ob dieses seltenen Stückes in den Händen eines schlichten Landmannes gar sehr verwundert, denn er kannte gar wohl den Wert des Steines. Er sprach zu dem Landmanne: "Der Kaiser hat in seiner Schatzkammer gar viele schöne Edelsteine, ich habe sie alle selbst gesehen, aber keinen, der an Schönheit und Wert diesem da gleichkommen würde."

Da antwortete darauf der Landmann: "So soll der Kaiser auch diesen da haben, denn ich will ihm denselben schenken."

Und er reiste noch an demselben Tage nach dem fernen Kaiserhofe. Dort liess er sich vor den Kaiser führen ; er fand ihn auf dem Throne sitzend, umgeben von den Würdenträgern des Reiches.

Der schlichte Landmann trat vor den Kaiser hin und zeigte ihm den kostbaren Edelstein. Bei dem Anblicke dieses gar seltenen Kleinodes geriet auch der Kaiser in gewaltiges Erstaunen und er rief: "Ja wisst Ihr, mein Lieber, dass Ihr jetzt der Reichste in meinem weiten Reiche seid?"

Da beugte der schlichte Landmann seine Knie tief vor dem Kaiser und sprach:
"Mein guter und erhabener Kaiser! Da ihr den Wert dieses Steines gar wohl kennt, so mag dem immerhin auch so sein. Im Besitze desselben müsste ich wohl der Reichste sein in Eurem weiten Reiche. Mein Verlangen geht aber nicht nach irdischen Gütern. Ja, ich glaube, ich wäre trotz des grossen Reichtums der ärmste Mann in Eurem weiten Reiche, fehlten mir die innige Liebe zu meinem guten Kaiser und der fromme Glaube an meinen allmächtigen Gott, der da ist der Herr über Alle! Geliebter Kaiser, ich schenke Euchdiesen Stein!"

Da sprach der Kaiser, indem er sich an die den Thron umstehenden Würdenträger wendete:
"Sehet da diesen schlichten Landmann! Der Edelstein, den er in seiner Brust trägt, die innige Liebe zu seinem Kaiser und der fromme Glaube an seinen Gott, er mag ihn nicht preisgeben für alle Güter der Erde!
Solange ich solche Untertanen in meinem weiten Reiche habe, will ich Gott danken für die mir in so reichem Masse zugewendete Gnade und keinen, noch so grimmigen Feind fürchten!"

Und zu dem Landmanne gewendet, fuhr er also fort: "Ihr aber mein Lieber, der Ihr nur ein schlichter Landmann seid, Ihr habt mir jetzt das Herz und die Gesinnung eines wahrhaften Edelmanns gezeigt. Ich nehme Euer Geschenk huldvoll entgegen und es soll aufbewahrt werden zum bleibenden Andenken an
diese Stunde.

Von heute an seid Ihr ein Edelmann und Euer Name sei künftighin zur dauernden Erinnerung an diesen hellleuchtenden, schönen Stein:
"Liechtenstein."

So wurde der schlichte Landmann der Stammvater des Hauses Liechtenstein."

Quelle: Uhlenhut, Friedrich (Hg.): Das Buch vom Liechtenstein, Aus Anlaß des 70. Geburtsfestes Sr. Durchlacht des regierenden Fürsten Johann von und zu Liechtenstein zur Belehrung und Unterhaltung der vaterländischen Jugend, Im Selbstverlage des Herausgebers Johann Preiss, III., Ungargasse 39, Wien 1910.