DIE JUNGFRAU AUF GUTENBERG
In Gutenberg, der vielumstrittenen Feste bei Balzers, liegt ein unendlicher
Hort geborgen, den eine weisse Jungfrau hütet.
Der Schatz hat sich einmal gesonnt. Es war ein grosser Haufen Schneckenschalen,
die von purem Golde waren und wunderherrlich im Sonnenschein erglänzten.
Wer den Schatz heben will, muss zuerst die weisse Jungfrau erlösen.
Ein Bub aus Balzers war beim Beerenlesen bis zur alten Mauer hinaufgekommen.
Den sprach die Jungfrau um Erlösung an. Dreimal solle er sie umschwingen,
aber dabei nicht auf ihre Zöpfe schauen und kein Sterbenswörtlein
sprechen. Der Knabe fasste all sein Herz und seine Kraft zusammen und
schwang die weisse Jungfrau, ohne ein Aug zu verwenden und ohne den Mund
zu öffnen, zweimal herum. Das drittemal aber musste er, er konnte
nicht anders, einen Blick auf die schönen, goldglänzenden Zöpfe
werfen. Da hatte er auf einmal zwei Schlangen in den Händen, und
es schlüpften ihm die Worte heraus: "Jesses, wie kalt!".
Die Jungfrau verschwand mit Wehklagen. Wieder müsse sie hundert Jahre
geisten und den Schatz hüten.
Quelle: Sagen aus Liechtenstein, Otto Seger, Nendeln/Liechtenstein,
1966/1980, Nr. 51