Der Brunnengeist bei Dalheim

A. Zwischen Dalheim und Waldbredimus befand sich in uralter Zeit das herrschaftliche Schloss Gondelingen, das jetzt fast spurlos verschwunden ist.

In dem Walde zwischen genannten Dörfern entspringt ein Brunnen, bekannt unter dem Namen Schwefelbrunnen. Viele behaupten, es sei nicht heimelig an dieser Stelle. Sogar heute noch bekreuzigen sich die Leute, die da vorbeigehen; denn in diesem Brunnen soll ein Geist hausen.

Einst gingen an einem Sommernachmittag mehrere Weiber Kraut und Blätter dort suchen. Sie hatten das Kraut beiseite auf einen Haufen gelegt. Plötzlich wurde das Kraut von unsichtbarer Hand auseinandergeworfen, so dass nicht ein Halm bei dem anderen blieb.

Vom Brunnen ging ein langer, unterirdischer Kanal zum Schloss hinab; von diesem Kanal sind noch heute Spuren vorhanden. Im Schlosse befand sich eine Kammer, die man die grüne Kammer nannte. Die Schlossbewohner fürchteten sich vor dieser grünen Kammer sehr, denn sie sagten, der Brunnengeist halte sich nächtlicherweile dort auf.

Manche behaupten, dort eine hagere, schlanke Frau gesehen zu haben.*) Die Frau, heißt es, habe schon manche in den reißenden Waldbach geschleudert, der unten am Fuße des Schlosses vorbeifließt. Andere behaupten, sie auf dem gegenüberliegenden Berge gesehen zu haben. Dieser Berg nennt sich der Hurenstein. Dort stand eine große, mächtige Buche, genannt der Disson, wo sie nachts von zwölf bis ein Uhr mit einem Ritter focht und zuletzt überwunden, einen hellen, markdurchdringenden Schrei ausstoßend, zum Schloss hinabeilte. Wehe dem, welchem sie dann unterwegs begegnete. Beim Kreuze am Fuße des Schlosses angekommen, kehrte sie sich plötzlich um und verschwand in dem unterirdischen Kanale, der, eine halbe Stunde Weges lang, bis zum Schwefelbrunnen führt.

B. In einer Septembernacht, – des Erzählers Urgroßvater in Dalheim spricht, – ging ich, wie es damals Brauch war, Birnen sammeln, in der Meinung, der Tag werde bald anbrechen. Bei dem Neudörfchen- Kreuz sah ich plötzlich eine schlanke, weiße Frauengestalt vor mir dahergehen. Ich hielt sie für Jeannette, die auch Birnen sammeln wollte, und eilte, ihr zuvorzukommen, aber trotzdem sie nur langsam zu gehen schien, vermochte ich's doch nicht, sie einzuholen. Da bog ich quer übers Feld ab zu mehreren riesengroßen Birnbäumen; aber obgleich der Wind stark wehte, vermochte ich nicht, eine einzige Birne zu finden. Ich schlug die erste Richtung wieder ein. Da sah ich die Jeannette am Fußpfad stehen, der am Saum des Waldes vorbeiführt, ruhig und still, als ob sie mich beobachten wolle. An dem Bergrücken, genannt die Ho, angelangt, hörte ich durch den Wind die Birnen herabfallen, sie fielen mir sogar auf den Kopf, aber finden konnte ich keine. Da hörte ich die Turmuhr von Dalheim Mitternacht schlagen. Ich kehrte zurück und sah das Weib wiederum, noch immer am Saume des Waldes. Plötzlich stieß es einen hellen Schrei aus.

Zu Hause angekommen, hörte ich von den Meinigen, dass das nicht Jeannette, sondern ein Geist ist, der sich nächtlicherweile dort sehen ließ. Da beschloss ich zurückzukehren, verrichtete ein Gebet, besprengte mich mit Weihwasser, steckte einiges Gesegnetes zu mir und verließ das Haus. Furcht kannte ich nicht, auf Schlachtfeldern hatte ich dem Tod schon oft ins Auge geschaut und, da ich jenen mächtigen Geisterspruch kannte, der alle Geister Rede stehen tut, so wollte ich dem Geiste zu Leibe rücken. Aber ich fand ihn nicht mehr an der vorigen Stelle. Schon begann es zu tagen, als ich plötzlich ein leises Wimmern vernahm; sodann erfolgte ein so furchtbarer Knall, dass ich meinte, der ganze Wald sei auf einen Haufen gefallen. Das Geräusch ward noch furchtbarer. Ich stand in einem Meer von Flammen, Schlag auf Schlag erfolgte; da begann die Erde nachzugeben, ich hielt die Hände über den Kopf und brach zusammen. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich unten am Schwefelberg. Wie ich hinabgekommen, weiß ich nicht. Plötzlich sah ich die weiße Frauengestalt wieder an mir vorüberschweben, schnell wie ein Pfeil; wie auf Flügeln getragen, durchflog sie die Luft bis zum Schwefelbrunnen, wo sie unter häufigen Klagetönen meinen Augen entschwand. Ich kletterte den Hügel wieder hinauf und oben sah ich den Erdboden nicht mehr durch die Unmasse von Birnen, die denselben bedeckten; Äste, ja sogar ganze Bäume lagen da zusammengebrochen. Zu Hause ward ich mit Fragen bestürmt, aber ich schwieg.

C. Ein anderer Mann aus Dalheim erzählt, er sei an einem Sonntagnachmittag längs dem Judenfelsen hin bis zum alten Berg und von da hinab ins Höllental (eine Stunde von Dalheim) gegangen, das Rollen des Donners aber habe ihn zur Rückkehr bewogen. Es ward immer finsterer, so finster, dass er den schmalen Fußpfad nicht mehr sah. Er geriet in der Dunkelheit in ein Labyrinth von Dornen und Gestrüpp. Er hörte deutlich das Rollen eines Wagens, er rief laut, aber nur das Echo antwortete. Da gewahrte er einen hellen Streifen und fern ein Licht daherwandeln. Er ging geradeswegs auf das Licht zu, neben sich hörte er das Wasser rauschen; plötzlich begann der Boden nachzugeben, und er versank in Schlamm und Wasser bis an die Hüften. Das Licht verschwand in der Luft unter schallendem Gelächter. Während der Donner fürchterlich rollte und die Blitze zuckten, arbeitete sich der Mann aus dem Sumpf. Beim Schein des Blitzes erkannte er, dass er sich in einem der alten Weiher befand, welche ehemals der Herrschaft Gondelingen angehörten. Dort mündet das Wasser des Schwefelbrunnens und bildet nur mehr große Sümpfe. Da sah er plötzlich den Brunnengeist in hellem Lichtscheine wie aus der Erde emportauchen, am jenseitigen Ufer des alten Weihers dahinschweben, die Luft unter häufigen Klagetönen nach allen Richtungen durchkreisend. Bald erhob sich ein heftiger Wirbelwind, der alle Bäume auf den Mann zu schleudern drohte. In seiner Angst lief er, ohne zu wissen wohin, und geriet in den Schleidbach, der von dem schweren Gewitter sehr angeschwollen war. Die Wellen schleuderten ihn von einer Seite zur anderen, doch arbeitete er sich heraus. Die schaurige Gestalt verlor sich am Hurenstein, dem gegenüberliegenden Berg. Die Klagetöne klangen aber noch immer in seinen Ohren, als der Mann, blutend und mit Wunden bedeckt, bei der Schleidmühle ankam.

So irrt dieser Geist noch immer bis zum heutigen Tag und findet weder Rast noch Ruhe.

*) Zu erwähnen ist, dass bei der Zerstörung des Schlosses unter der grünen Kammer in einem tiefen Verlies fünf Menschengerippe aufgefunden worden sind.

Quelle: Nikolaus Gredt, Sagenschatz des Luxemburger Landes, Luxemburg 1883