Das Felsefrächen bei Grevenmacher

In den hohen Felsen, die zwischen Machtum und Grevenmacher die Weinberge begrenzen, hielt sich vor zweihundert Jahren eine Frau auf (nach einigen: drei Frauen), welche unter dem Namen Felsefrächen bekannt war. Während der Nacht war sie meistens auf den Bergen; bei Tag sah man sie selten und dann nur zur Essenszeit, wo sie, jedoch ohne zu sprechen, zu den Arbeitern und Winzern kam. In den Felser-Felsen befinden sich in geringer Entfernung voneinander zwei Spalten, von denen die eine so groß ist, dass man fast aufrecht durch dieselben in den Felsen hineingehen kann. Dort soll das Frächen immer zu der einen hinein- und zu der anderen herausgegangen sein, ohne dass jemand es wagte, ihr zu folgen und nach ihrer unterirdischen Wohnung zu forschen. Ihr Hauptgeschäft soll Spinnen gewesen sein. Die einzigen Laute, die man von ihr hörte, waren allnächtlich um die Geisterstunde ein lautes Singen und Schreien. Sie bereitete allerlei wohltuende Tränke für krankes Vieh und war von den Bewohnern der umliegenden Ortschaften mehr geliebt als gefürchtet.

Einst schickte eine Frau ihren Sohn zum Felsenfrächen, um einen Trank für ihre kranke Kuh zu erbitten. Diese lockte den Knaben, der ihr gefiel, in ihre unterirdische Wohnung und ließ ihn nicht mehr von sich. Dem Knaben konnte es aber dort nicht gefallen, er versuchte zweimal, während ihrer Abwesenheit zu entkommen, jedoch vergebens. Bei einem dritten Fluchtversuch geriet die rätselhafte Frau in Zorn, überfiel den Knaben und riss ihn in zwei Stücke, wovon sie das eine in die Mosel warf, das andere aber selbst verzehrte. Als die Tat ruchbar wurde, fing man das Felsenfrächen und verbrannte es auf einem Scheiterhaufen.

Nachher soll es noch öfter gesehen worden sein, besonders von Frauen, die des Morgens früh zur Mosel gingen, ihre Wäsche zu besorgen.

Lehrer Wagner zu Grevenmacher

Quelle: Nikolaus Gredt, Sagenschatz des Luxemburger Landes, Luxemburg 1883