Der Frauensand

In Stavoren lebte eine reiche und übermütige Wittib, die aber bei all ihrem Reichtum eines sehr harten Herzens war. Diese befahl einmal einem ihrer Schiffsleute, dass er ein Schiff mit allem Nötigen ausrüsten und ihr das Kostbarste holen solle, was nur zu haben wäre. Der Schiffer machte sich auf den Weg und fuhr nach Danzig, konnte dort aber nichts besseres finden, als schönen Weizen und gedachte diesen seiner Frau zu bringen. Er lud also das Schiff damit voll und kehrte freudigen Herzens nach Hause zurück.

Als die Wittib von seiner Ankunft hörte, eilte sie ihm sogleich entgegen und fragte ihn, was er ihr denn Köstliches bringe, und der Schiffer neigte sich vor ihr und sprach: „Ach, edle Frau, so schönen Weizen, wie ihn je Menschenaugen sahen.“ „Was, Weizen?“ zürnte die Witwe, „und von welcher Seite hast du ihn eingeladen?“ „Von der Backbordseite“, entgegnete erschrocken der Schiffer, und die Witwe rief hohnlachend: „Ei, dann wirf ihn von der Steuerbordseite ins Meer.“

Kaum hatte der Schiffer das getan, da umringte eine hohe Sandbank den Hafen von Stavoren, so dass kein Schiff mehr in denselben einlaufen konnte, und auf ihr schoss der Weizen empor, trieb Blätter und Ähren, trug aber keine Frucht. Die Witwe aber starb in Armut und Elend und mit ihr trug die ganze Stadt gerechte Strafe für ihren Stolz, denn bald nachher versank ein Teil von Stavoren in die Tiefe des Meeres.

Die Sandbank heißt zum Gedächtnisse der gottlosen Witwe noch heute der Frauensand.

Quelle: Johann Wilhelm Wolf, Niederländische Sagen, Leipzig 1843