So viel Kinder als Tag' im Jahr

Floris, der dreizehnte Graf von Holland, hatte unter andern Kindern eine Tochter, welche Machtelt hieß, und dieser gab er zum Manne den Grafen Hermann von Henneberg. Es geschah aber zu einer Zeit, dass diese Gräfin sah, wie ein armes Frauchen, deren Mann gestorben war, an der Türe um ein Stücklein Brot bettelte, und dieses Frauchen hatte auf jedem Arme ein Kindlein, welche beiden sie in Einer Niederkunft zur Welt gebracht. Da sprach die Gräfin schmählicherweise, es sei nicht möglich, mehr als Ein Kind von Einem Manne auf einmal zu empfangen, und verachtete die arme Frau. Diese sprach hinwieder: „Durch Gottes Verhängnis kann das sehr wohl geschehen.“ Aber die Gräfin glaubte das nicht und beschimpfte die Arme und trieb sie von der Türe. Die Frau war darob sehr bestürzt, schlug ihre beiden Augen gen Himmel und rief: „O Herr und Gott, der du mächtig bist über alle Dinge, ich bitte dich demütig, dass du dieser Gräfin in Einer Geburt so viel Kinder geben wollest, als da Tage sind in einem Jahre.“

Die Gräfin ward nicht lange nachher gesegneten Leibes von ihrem Manne, dem Grafen von Henneberg, und zog niederwärts gen Holland hin. Und als die Zeit kam, dass sie bald gebären sollte, da ward sie also dick und schwer, dass kein Mensch sein Lebetage dergleichen gesehen hatte. Weil sie aber eine Tochter war von Floris, kam sie zu ihm nach Loesdunen, und als man schrieb tausend zweihundert und sechs und siebenzig, da gebar sie an dem heiligen Karfreitag in der Fasten dreihundert und fünf und sechzig Kinder, alle ganz ausgebildet an allen Gliedern. Bischof Otto von Utrecht, ihr Oheim, kam dazu und hat all diese Kinder in Einem Becken getauft, und die Knäblein wurden geheißen Johannes und die Mägdlein Elisabeth. Kaum aber waren sie getauft, da starben sie auch alle zusammen mit ihrer Mutter, der Gräfin, und wurden alle zugleich im Kloster begraben, wo man noch heutigen Tages die Geschichte auf dem Grabsteine lesen kann.

Auch baute man zum Gedenken an den wunderbaren Vorfall eine Burg am Ufer der Maaß, welche so viele Fenster hatte, als Machtelt Kinder geboren.

Quelle: Johann Wilhelm Wolf, Niederländische Sagen, Leipzig 1843