Das Wunderkorn von Stavoren

Die Stadt Stavoren in Friesland war durch die Blüte ihres Handels zu also großem Reichtume gekommen, dass ihre Bewohner vor lauter Übermut nicht wussten, was sie taten. Sie ließen ihre Hausflure, Lehnen und Türen mit purem Golde beschlagen, um den Holländern zu trotzen, weil diese den Aufschwung der Stadt nur mit scheelen Blicken ansahen, und trieben es so arg, dass man sie allgemein nicht anders nannte, als die verwöhnten Kinder von Stavoren. Selbst eigene Gesetze hatten sie sich gemacht und sogar das Recht von Galgen und Schwert sich zugelegt.

Zu dieser Zeit war das Korn in Stavoren einmal sehr hoch im Preise und eine reiche Witwe in der Stadt ließ, um Vorteil daraus zu ziehen, ein Schiff ausrüsten, welches aus Danzig eine ganze Ladung von Korn holen sollte. Während der Zeit aber, wo das Schiff auf der Reise sich befand, sanken die Getreidepreise plötzlich, und als es zurückkam, standen sie so tief, dass die Witwe sich genötigt sah, das Korn mit Schaden zu verkaufen, wenn sie Geld daraus lösen wollte. Darüber erzürnte die unfromme Frau höchlich und schwur, eher die ganze Ladung zu verlieren; sie gebot dem Schiffer, alles ins Wasser zu werfen.

Dies war nicht sobald geschehen, als sich vor der Stadt und gerade an der Stelle, wo das Korn hineingeschüttet worden war, eine Sanddüne erhob, welche den Schiffen den Zugang zur Stadt wehrte, so dass Stavoren in kurzer Zeit von dem Glanze seines Reichtums in tiefe Armut versank. Als Wahrzeichen von der sündlichen Tat der Witwe wächst auf der Düne noch jegliche Jahr eine eigenartige Pflanze, Wunderkorn genannt, welche dem wirklichen Korn in allem ähnlich sieht, nur ist ihre Ähre taub und sonder Frucht.

Quelle: Johann Wilhelm Wolf, Niederländische Sagen, Leipzig 1843