Das Faß im Helfenstein

Eine Meile von Trautenau in Böhmen, auf dem Riesenberg, liegt der Helfenstein, ein hoher Fels, auf dem sonst ein Raubschloß gestanden, nachher aber versunken ist, und niemand weiß, wo die Menschen, die darin lebten, hingekommen sind.

Im Jahre 1614 war zu Marschendorf eine junge Magd, die ging nicht weit von diesem Fels Vieh hüten und hatte mehrere Kinder bei sich. Zu diesen sprach sie: „Kommt, laßt uns hin zum Helfenstein, ob wir ihn vielleicht offen finden und das große Weinfaß sehen!“

Da sie hingehen, ist der Felsen offen und eine Eisentür aufgetan, darin ein Schloß mit vielen Schlüsseln hängt. Aus Neugierde treten sie näher und endlich hinein. Es ist ein ziemlich weites Vorgemach, aber hinten ist wieder eine Tür und sie gehen durch; in dem zweiten Gemach liegt allerhand Hausrat, besonders ein großes, zehneimeriges Faß Wein, davon waren die meisten Dauben abgefallen; allein es hatte sich eine fingerdicke Haut angesetzt, so daß der Wein nicht herauslaufen konnte. Als sie es alle vier mit den Händen angriffen, schlotterte es und gab nach wie ein Ei mit weicher Schale. Indem sie nun solches betrachten, kommt ein wohlgeputzter Herr aus einer schönen Stube, einen roten Federbusch auf dem Hut, in der Hand eine große Kanne, um Wein zu holen. Beim Türaufmachen sahen die Erstaunten, daß es in der Stube lustig hergehe; an zwei Tischen sitzen mehrere schön gekleidete Männer und Weiber, sie haben Musik und sind fröhlich. Der aber den Wein zapft, heißt sie willkommen und in die Stube gehen. Sie erschrecken und wünschen sich weit dvon; doch spricht die eine, sie wären nicht angeschickt, zu so wohlgeputzten Leuten zu gehen. Er bietet ihnen dennoch Trinken an und reicht die Kanne. Wie sie sich entschuldigen, heißt er sie warten, bis er für sie eine andere Kanne geholt. Als er nun weg ist, spricht die Älteste: „Laßt uns hinausgehen, es möchte nicht gut werden! Man sagt, die Leute seien in den Bergen hier dem Bösen verfallen.“ Da gehen sie eilends heraus, hinter sich hören sie nach wenigen Schritten ein Knallen und Fallen, so daß sie heftig erschrecken.

Nach einer Stunde sagt die Älteste wieder: „Laßt uns noch einmal hin und sehen, was das gewesen ist, was so gekracht hat!“ Die andern wollten nicht; da jedoch die Große so kühn war, allein hinzugehen, folgten die anderen nach. Sie sehen aber weder Eingang noch eiserne Tür, der Fels war fest zu. Wie sie das Vieh eingetrieben, erzählten sie alles den Eltern. Diese berichteten es dem Verwalter; allein der Fels blieb zu, so oft man ihn auch untersuchte.

Brüder Grimm

Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein, Hans Fraungruber, Wien, Stuttgart, Leipzig 1911
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2006.
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